Sie sprach betont langsam und sehr deutlich, als wäre er schwerhörig oder begriffsstutzig. Kayemo versuchte, sich daran zu erinnern, ob er einen Nachnamen hatte, was ihm jedoch nicht gelang. Also schüttelte er den Kopf.
»Na gut, dann eben nur Kayemo«, sagte Mara. »Und wo kommst du her?«
Angestrengt dachte er nach, versuchte verzweifelt herauszufinden, woher er kam und warum er hier in der Stadt war. Doch seine Erinnerung beschränkte sich auf ganze drei oder vier Tage. Immer wieder dachte er: Ich muss nach Hause. Und gleich darauf: Wo ist das?
»Soll ich jemanden für dich anrufen?«, fragte Mara.
Anrufen? Irritiert schüttelte er den Kopf.
»Aber du musst doch Familie haben – oder wenigstens Freunde.«
Tief in Kayemos Inneren regte sich ein Schmerz, doch er wusste nicht, warum.
»Weißt du, wer auf dich geschossen hat? Bist du überfallen worden?«
Jetzt, wo Mara seine Verletzung erwähnte, spürte er wieder das Pochen und Kribbeln in seinem Oberarm. Der Arzt im Krankenhaus hatte ihm dieselbe Frage gestellt, und er hatte keine Antwort gewusst, noch hätte er sie aussprechen können. Daran hatte sich nichts geändert.
Kayemo zog den Block zu sich heran und schrieb: ich kann mich an nichts erinnern.
»Aber warum bist du aus dem Krankenhaus abgehauen?«
Von Maras Fragen und seinem Kopfschütteln wurde Kayemo ganz schwindlig. Was konnte er antworten, um sie zufriedenzustellen? Der Doktor hatte ihm eine Nadel in den Hintern gejagt, dann hatte er leise mit der Schwester gesprochen, hatte geglaubt, sein Patient könne ihn nicht hören. Doch Kayemo hatte das Gehör einer Fledermaus.
Der Junge hat eine Schusswunde, das muss ich der Polizei melden. Vermutlich werden sie ihn einsperren, aber das ist nicht unser Problem. Machen Sie einfach weiter und lassen Sie sich nichts anmerken …
Als der Doktor den Raum verlassen hatte und die Schwester ihm für einen Moment den Rücken zuwandte, war Kayemo durch das offene Fenster hinaus auf den Parkplatz geflohen.
Er griff zum Stift und zeichnete flink eine große Spritze.
Mara lachte, offenbar war das also eine gute Antwort. »Du hast Angst vor Spritzen«, sagte sie, »deshalb bist du weggelaufen.«
Kayemo sah in ihre Augen, die wie grüne Feuer leuchteten, wenn sie lachte. Pure Magie.
Ich habe Angst vor allem hier, auch vor dir, dachte er. Weil du aus einer fremden Welt stammst und ich keine Ahnung habe, wie ich in meine zurückfinden kann.
»Und wie bist du hierhergekommen? Wie hast du mich überhaupt gefunden?«
Draußen, auf dem Krankenhausparkplatz, war Kayemo ein zweites Mal knapp einem Zusammenstoß mit einem Auto entkommen. Und dann hatte er das Mädchen mit den roten Haaren wiedergesehen, als es gerade aus dem Pick-up gestiegen war.
Kayemo zeichnete den Truck und wie er auf die Ladepritsche kletterte. Er hatte sich unter der alten Plane versteckt, die dort lag, und gewartet. Hatte gehofft, das Mädchen würde wieder dort entlangfahren, wo es ihn gefunden hatte. Stattdessen waren sie hier, in diesem Haus gelandet, von dem er nicht mehr wusste, ob es Zuflucht oder Falle war.
Neugierig darauf, wie andere Menschen lebten, war er durch die Räume gestreift und hatte sich alles angesehen und ausprobiert. Die Toilette mit der Wasserspülung, die bequemen Sessel, das Bett mit der weichen Matratze. Er hatte die Fotos an den Wänden studiert und sein Gesicht im Spiegel betrachtet. In der Küche gab es überall Nahrung, doch er hatte nicht zu essen gewagt, aus Angst, die Lebensmittel könnten vergiftet sein.
Nur den Bonbons hatte er nicht widerstehen können und dann war ihm schlecht geworden davon. Geschlafen hatte er in einem Zimmer mit einer Tür, die in den Garten führte, damit er unbemerkt hinein- und hinausschlüpfen konnte.
»So einfach war das also«, murmelte ich nachdenklich.
Mein geheimnisumwitterter Gast hieß Kayemo – Fallende Blätter, und mehr schien er selbst nicht über sich zu wissen. Hatte er im Bad vor dem Spiegel gestanden, seine Hand an das kalte Glas gedrückt und sich gefragt, wer er war?
Komisch, aber ich glaubte ihm. Kayemo – stumm und unwirklich wie ein fremdes Wesen aus einer anderen Zeit, das nur so aussah wie ein Junge. Wachsam wie ein scheues Tier.
Irgendwo war er verloren gegangen, und der Zufall hatte es gewollt, dass ausgerechnet ich ihn finde. Halbmond, Stern, Handabdruck, die Chaco-Symbole auf seinem Arm befeuerten meine Fantasie und meine Neugier. War Kayemo ein Zeitreisender, ein Wanderer zwischen den Welten? Waren böse Mächte hinter ihm her? Zu meinem eigenen Leidwesen glaubte ich nicht an solche Dinge.
Doch woher kam er und was mochte ihm zugestoßen sein? Hatte ein traumatisches Ereignis seine Erinnerungen gelöscht? Kayemos Verletzungen, der Gedächtnisverlust und die Tatsache, dass er stumm war, riefen etwas in mir wach. Vielleicht war es Mitleid oder Neugier, vielleicht auch etwas ganz anderes. Ich wollte ihn so gerne berühren, um sicherzugehen, dass er real war, doch ich hatte Angst, dass er sich dann wieder in Luft auflösen könnte.
»Was machen wir denn jetzt mit dir?«, murmelte ich nachdenklich.
Verunsichert sah er sich um, ob noch jemand im Haus war.
»Ich könnte dich ein wenig mit dem Auto in der Gegend herumfahren«, schlug ich vor, »vielleicht hilft das deinem Gedächtnis auf die Sprünge. Aber so dreckig und halb nackt kannst du nicht unter Menschen gehen. Ich muss deine Wunde verbinden und du brauchst etwas zum Anziehen.«
Kayemo sah an sich herunter, und es schien, als würde er jetzt erst begreifen, wie er aussah. Er musste unter die Dusche und brauchte ein T-Shirt und andere Hosen, denn seine Jeans waren so weit jenseits von Vintage, dass er damit unweigerlich aufgefallen wäre, sogar in Taos.
Ich wusste, dass Lucia in der Garage Kartons mit Kleiderspenden aufbewahrte. Ausrangierte Klamotten von ihren zahlreichen Freundinnen, die sie in regelmäßigen Abständen einem gemeinnützigen Verein in Albuquerque brachte. Vielleicht war ja etwas Brauchbares für Kayemo darunter.
Ich nahm ihn also mit in die Garage und wir sahen die Sachen durch. Kayemo entschied sich für eine Levi’s und ein langärmeliges grünes T-Shirt mit einem Comic-Roadrunner und der Aufschrift SUPERBIRD darauf. Ich fischte noch zwei weitere T-Shirts und eine warme grüne Fleecejacke aus den Spendenkisten. Zuletzt durchforstete ich das Schuhregal der Elliots und fand ein Paar schwarze Chucks in der passenden Größe, die neu aussahen und hoffentlich nicht zu Davids Lieblingsschuhen gehörten.
»Und jetzt wird geduscht«, sagte ich, als wir wieder im Flur standen. »Das Bad ist da drüben«, ich deutete auf eine Tür. »Aber das weißt du sicher schon. Frische Handtücher liegen im Regal.«
Kayemo verschwand mit den Klamotten im Bad und schloss die Tür hinter sich. Ich wartete einen Moment, dann schlich ich mich hin und lauschte. Hörte nichts. Gar nichts. Was machte er dadrin? Keine Toilettenspülung, kein Wasserrauschen. Als die Tür plötzlich aufging, holte ich geräuschvoll Luft und machte einen Satz zurück.
»Ähm … stimmt was nicht?«
Er trug nur ein Handtuch um die Hüften und seine Lippen formten die Worte: Kannst du mir helfen?
»Beim Duschen?«, stotterte ich verlegen und hoffte, dass mein Gesicht nicht so rot war, wie es sich anfühlte.
Kayemo ging ins Bad zurück, trat vor die offene Duschkabine und deutete auf die chromglänzenden Armaturen. Es war eine dieser raffinierten Massageduschen, ausgestattet mit sieben Düsen, die in alle Richtungen Wasser versprühen. Zuerst war ich auch nicht mit den futuristisch anmutenden Armaturen klargekommen, deshalb wusste ich sofort, was er von mir wollte.
Ich erklärte ihm, wie die Hebel und Knöpfe funktionierten, und hoffte, dass er