Ich glaube, das war der Moment, der meine letzten Zweifel wegspülte. Kayemo hatte sich nicht im Bad eingeschlossen. Wer er auch war, zu fürchten brauchte ich mich nicht vor ihm. Abgesehen von seinen Augen, seinem Haar und seiner Haut war nichts Dunkles an ihm.
Nach einer halben Stunde wurde ich unruhig und klopfte an der Tür. Kayemo öffnete mir und ich stieß einen leisen Schrei aus, als ich die Überschwemmung sah. Offensichtlich hatte er beim Duschen die Tür der Duschkabine nicht geschlossen. Na super!
Bestürzt sah er mich an, schien jedoch nicht zu wissen, was mein Problem war.
»Schon gut«, brummte ich, »das lässt sich aufwischen.«
Das Haar hing Kayemo in glatten, feucht glänzenden Strähnen bis über die Schulter. Der silberne Kokopelli lag auf seiner Brust. Sein dunkler, kantiger Oberkörper war von blauen Flecken, Abschürfungen und unzähligen kleinen Narben übersät. Helle Striche und Haken, die wie geheimnisvolle Schriftzeichen in seine Haut geritzt waren. Auf seinen Armen und dem flachen Bauch zeichneten sich Muskeln ab, doch ich konnte seine Rippen zählen, so dünn war er.
Ich starrte ihn an, die Neugier war stärker als mein Taktgefühl. Kayemos Magerkeit, die blauen Flecken, die Schrammen und diese merkwürdigen Narben auf seiner Brust – sofort entstand ein neues, finsteres Szenario für seinen Gedächtnisverlust in meinem Kopf.
Vielleicht hatte sich seine Familie dafür geschämt, dass er nicht sprechen konnte, und hatte ihn versteckt gehalten. Vielleicht hatte er hungern müssen, war misshandelt worden und hatte es schließlich geschafft, abzuhauen. Dabei hatte irgendwer eine Kugel auf ihn abgefeuert, weil er verhindern wollte, dass alles ans Licht kam.
So abwegig war mein Gedanke gar nicht. Erst vor ein paar Wochen war die Geschichte von zwei Brüdern aus Oregon durch die Presse gegangen, die – von ihrem eigenen Vater entführt – jahrelang in einem Wohnwagen im Wald gehaust hatten, zusammen mit zwei großen Hunden. Der Vater ließ die beiden meist allein, sodass ihre einzige Gesellschaft die Hunde waren. Als man die Jungen schließlich fand, knurrten und bellten sie und weigerten sich zu sprechen.
Auf einmal wurde mir bewusst, wie unangenehm es Kayemo sein musste, so angestarrt zu werden, und mein Blick wanderte verlegen nach unten. Seine Hosenbeine schleiften auf dem Boden und der Saum hatte sich eine Handbreit mit Wasser vollgesogen. Seine schmutzigen Jeans lagen in einer trüben Wasserlache. Ich ging in die Knie, um mit dem nassen Handtuch notdürftig den Boden trocken zu wischen. Dann steckte ich es zusammen mit den Jeans und den Klamotten aus der Kleiderkiste in die Waschmaschine und stellte das Programm ein.
Kayemo stieß einen ungläubigen Laut aus. Er ließ sich auf den Badewannenrand sinken und starrte wie hypnotisiert auf die rotierende Trommel mit der nassen Wäsche darin, als hätte er so etwas noch nie gesehen.
Irgendetwas stimmte nicht mit ihm, da war ich mir sicher. Okay, er schien harmlos, aber etwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht.
Finde es raus, Mara! Du hast alle Zeit der Welt.
Mein Blick fiel auf die tiefe Kerbe im oberen Teil seines linken Oberarms. Die Streifwunde brauchte einen Verband, bevor ich mich mit ihm in die Öffentlichkeit wagte. Ich holte Wundspray und Verbandsmaterial aus dem Badezimmerschrank. Als ich seinen Arm berührte, zuckte Kayemo zusammen.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte ich, »aber es ist besser, ich verbinde das.«
Kayemo sah mich an, und ich entdeckte etwas in seinen Augen, das ich zuvor schon wahrgenommen hatte. Es war, als schien er sich auf seltsame Art vor mir zu fürchten.
Nur warum?
Die körperlose Stimme in seinem Kopf warnte Kayemo davor, dass Hexen einen Mann auf diese Weise einfangen: mit ihren Blicken und den Versprechungen darin. Wenn du so einer gegenüberstehst, dann dreh dich um und lauf!
In seinen Ohren begann es zu rauschen, und erneut konnte er Maras Macht spüren, ihren Zauber, mit dem sie ihn bannte. Doch der Nachtstein, der steckte in der Vordertasche seiner alten Jeans und die wirbelten gerade in der Waschmaschine herum. Nun war er Mara gnadenlos ausgeliefert, sie hatte ihn zu völliger Willenlosigkeit verhext. Nicht einen Zentimeter konnte er sich bewegen, während sie seinen Arm hielt und mit interessiertem Blick die blutige Scharte begutachtete.
»Ich glaube, sie heilt.« Mara lächelte, aber dann sprühte sie etwas aus einer kleinen Dose auf die Wunde und sein Arm brannte wie Feuer. Er zog scharf die Luft ein und seine Armmuskeln spannten sich.
»Das ist ein Wundspray«, bemerkte Mara entschuldigend, »damit sich die Verletzung nicht entzündet. Ich hätte dir vorher sagen müssen, dass es ein bisschen brennt.«
Ein bisschen? Kayemo biss die Zähne zusammen, spürte, wie der Schmerz nachließ und zu einem dumpfen Pochen wurde. Sein Mund war trocken, und er hatte das Gefühl, nicht mehr genug Luft zu bekommen. Mara legte ihm einen Verband an. Ihre Nähe betäubte den Schmerz und trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn. Während sie sich mit konzentriertem Gesichtsausdruck seiner Verletzung widmete, starrte er wie paralysiert auf das kleine Fuchstattoo.
Es befand sich jetzt direkt vor seiner Nase, und obwohl Mara sich um ihn kümmerte, kam sich Kayemo vor wie ein verwundetes Tier in der Falle.
Mit zusammengepressten Lippen und düsterer Miene saß Kayemo auf dem Wannenrand, während ich seine Armverletzung verband. Ich betrachtete sein Gesicht, und zum ersten Mal fiel mir auf, dass die rechte Hälfte seiner Oberlippe voller war als die linke. Aber das war noch nicht alles: Die rechte Augenbraue war dichter als die linke und machte einen stärkeren Schwung nach oben. Und der Haaransatz auf der rechten Seite seines Mittelscheitels schien höher als auf der linken Seite. Nicht nur seine Zähne, alles in seinem Gesicht war ein wenig schief und dadurch wirkte seine Miene noch finsterer.
Er war blass unter der dunklen Haut, sein Körper war angespannt wie eine Stahlfeder und er schien der Panik nahe. Keine Ahnung, was mit ihm los war und warum er sich so verhielt, aber wir waren wohl beide erleichtert, als ich endlich fertig war.
Als ich die Hand ausstreckte, um ihm das Haar aus der Stirn zu streichen, damit ich mir die Platzwunde ansehen konnte, erwachte er aus seiner Erstarrung und zog den Kopf zur Seite. Okay, dachte ich, dann eben nicht.
Kayemo stand auf und zog das SUPERBIRD-Shirt über, das wie angegossen passte.
»Bist du bereit für eine kleine Rundfahrt durch die Stadt?«
Er warf einen argwöhnischen Blick auf die rotierende Trommel der Waschmaschine. Vermutlich hatte er Angst um seine zerschlissene Hose, die nicht ganz unbegründet war. Ich hoffte, die Jeans würden sich während des Waschganges nicht völlig in ihre Einzelteile auflösen.
»Du bekommst deine Hose sauber zurück, wenn wir wieder da sind, okay?«, versprach ich ihm.
Kayemo schien sich nur schwer von seinem einzigen Kleidungsstück trennen zu können, aber schließlich folgte er mir. In den sauberen Sachen und mit Davids schwarzen Chucks an den Füßen sah er wie ein ganz normaler junger Mann aus. Allerdings beschlich mich inzwischen der Verdacht, dass Kayemo in seiner Entwicklung um ein paar Jährchen verzögert war, etwas, das ich zutiefst bedauerte, denn ich konnte nicht leugnen, dass er mir ausgesprochen gut gefiel.
Wir stiegen in den Pick-up und ich schnallte mich an. »Du auch«, sagte ich und zeigte auf den Gurt. Kayemo schien einen Moment nachzudenken, dann zog er sich den Gurt über die Brust und ließ ihn einrasten.
Von der Penitente Road bog ich auf die Kit Carson Road in Richtung Stadtzentrum, kurvte im Schneckentempo durch sämtliche Straßen der Stadt, doch in Kayemos Miene regte sich nichts. Schließlich parkte ich auf der Nordseite der