Das Mädchen blieb neben dem Pferd stehen und packte es am Zaumzeug. Das Tier senkte den Kopf und lies sich hinter den Ohren kraulen, während es mit der Schnauze an Sveas Tasche zu knabbern begann. Das Mädchen zog eine Frucht aus ihrem Beutel und gab sie dem Gaul zu fressen.
Während das Pferd abgelenkt war, griff Svea erneut in ihre Tasche und richtete dabei einen reuevollen Blick auf den Mönch. Faolán konnte nicht sagen, ob diese Reue ehrlich gemeint oder nur aufgesetzt war. Zumindest verfehlte der Blick seine Wirkung nicht. Dann brach Svea die angespannte Stille.
„Ehrwürdiger Mönch, ich habe Eure Fahrt unterbrochen, weil ich Euch noch etwas schuldig bin.“
Bruder Ivo verstand kein Wort. Dann zog Svea ihre Hand aus der Tasche und warf dem Kellermeister etwas zu. Geschickt fing er es auf und betrachtete verdutzt einen Apfel in seiner Hand.
„Vor einigen Wochen habe ich Euch einen Apfel auf dem Markt entwendet, da mich der Hunger quälte und ich nichts als Gegenwert anzubieten hatte. Ich wollte ihn nicht stehlen, sondern nur borgen. Seht diesen Apfel als Wiedergutmachung meiner Tat an.“
Der Benediktiner nickte nur kurz, erwiderte jedoch nichts, als habe es ihm die Sprache verschlagen. Die vermeintliche Diebin verstand das Schweigen als Zeichen der Zustimmung und trat dann mit wenigen Schritten an Faoláns Wagenseite. Erneut fuhr ihre Hand in den Beutel und brachte diesmal eine kleine, orangefarbene Blume hervor, die sie Faolán reichte. Der Novize verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. Stumm nahm er die Blüte entgegen und betrachtete sie. Er öffnete seinen Mund um etwas zu sagen, doch wie der Mönch war auch er unfähig zu sprechen.
Svea half ihm aus der Verlegenheit. „Lass den Kopf nicht hängen, kleiner Novize. Es wird ein nächstes Mal geben, das verspreche ich dir.“
Während Faolán überlegte, was die Worte im Zusammenhang mit der Blume zu bedeuten hatten, holte das Mädchen eine zweite, identische Blume aus ihrem Beutel und steckte sie hinter ihr Ohr. Wie selbstverständlich lag sie da in dem roten Haar eingebettet. Mit offenem Mund starrte Faolán sie an.
Svea schmunzelte vergnügt und sein Mund schloss sich langsam. Auf ihre ganz spezielle Art neigte sie ihren Kopf, blinzelte Faolán zu und wandte sich zum Gehen. Nach einigen Schritten blickte sie sich noch einmal um, hob kurz ihre Hand zum Gruß und verschwand genauso plötzlich im Unterholz wie sie aufgetaucht war.
Faolán gab ein leises, beinahe nicht zu vernehmendes „Warte …“ von sich, doch es war bereits zu spät. Svea war verschwunden und nur noch das sachte Wiegen der Äste zeugte von ihrem kurzen Auftreten. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er sich der Blume in seiner Hand bewusst wurde. Sie war ein Geschenk, bemerkte er schließlich. Das erste, das er jemals bekommen hatte.
Beglückt schaute er zu Bruder Ivo hinüber, der ihn forschend anblickte. Er war auf alles gefasst, was der Kellermeister jetzt sagen würde. Und Faolán rechnete mit dem Schlimmsten, denn der Cellerar war alles andere als schwer von Begriff. Wenn er seinen Verstand nur etwas bemühte, würde er sich jetzt einiges erklären können.
Erstaunlicherweise sagte der Mönch aber gar nichts. Dann begann er plötzlich herzhaft zu lachen. Behänd warf er den Apfel in die Luft, fing ihn wieder auf und biss hinein. Während er genüsslich kaute, schüttelte er ungläubig den Kopf und sprach leise zu sich. „Und ich hatte sie die ganze Zeit für einen Jungen gehalten, ich alter, blinder Narr! Früher wäre mir das nicht passiert …“
Erneut lachte er auf, trieb das Zugpferd zur Weiterfahrt an und biss noch einmal vom Apfel ab. „Das Beste an der ganzen Sache ist, dass dieser Apfel noch viel süßer schmeckt als unsere eigenen. Möchtest du kosten?“
Faolán lehnte das Angebot mit einem Kopfschütteln ab, doch er teilte die Freude des Mönches. Genüsslich aß der Benediktiner weiter und sprach zugleich: „Glaube mir, Faolán, ich weiß genau was in dir vorgeht.“
Faolán hätte nicht überraschter sein können, denn er verstand selbst nicht, was in ihm vorging. Wie konnte es da der Kellermeister wissen, der Svea noch nicht einmal kannte? Dennoch fuhr Ivo fort: „Frage mich jetzt nicht, woher ich das weiß. Ich kann dir nur so viel verraten, dass ich am eigenen Leib erfahren habe, was du gerade durchlebst. Daher kenne ich deine Gefühle sehr gut. Wenn du gestattest, würde ich dir gerne einen Ratschlag geben.“
Faolán war erstaunt, dass der Mönch mit einem Mal so einfühlsam über dieses Thema sprach und einen Rat sogar von seiner Zustimmung abhängig machte. Vor zwei Wochen erst hatte er über das Weibsvolk gescholten, als würde man allein durch ihre bloße Gegenwart in die ewige Verdammnis stürzen. Welche Geheimnisse barg der Kellermeister in sich? Neugierig nickte Faolán, um mehr darüber zu erfahren, und der Cellerar suchte vorsichtig nach den passenden Worten.
„Möglicherweise bist du von selbst schon zu der Erkenntnis gelangt, dass man deine verwirrenden Gefühle zu dem Mädchen Liebe nennt. Diese Liebe ist allerdings eine völlig andere als die Nächstenliebe, wie sie uns die Bibel lehrt. Sie ist auch anders als die Liebe zu unserem Herrn Jesus Christus. Die Art der Zuneigung wie du sie empfindest, ist aber genauso von Gott gegeben. Es gibt sie nur zwischen Mann und Frau. Nun ja, zumindest sollte es so sein, aber auch hier gibt es Ausnahmen …“
Der Cellerar bemerkte, dass er abschweifte, räusperte sich und fuhr fort: „Nun zu meinem Rat: Halte diese Gefühle für das Mädchen geheim! Erwähne sie vor niemandem, dem du nicht voll vertraust.“
Fragend hob Faolán die Augenbrauen und Bruder Ivo sprach weiter.
„Es könnte problematisch für dich werden, wenn das Wissen um deine Gefühle in die falschen Hände gerät. Man könnte sie gegen dich verwenden und dann ihr wie auch dir Schaden zufügen.“
„Merkwürdig, den gleichen Rat hat mir Ering schon gegeben. Ich verstehe allerdings nicht, wie diese, von Gott gegebene Liebe, gefährlich werden kann?“
„Du hast dich also schon jemanden anvertraut? Gut! Es ist wichtig, dass du einen Freund hast, dem du dein Geheimnis preisgeben kannst. Doch du hast nicht nur einen Freund. Auch Konrad sollte dein Vertrauen in dieser Hinsicht genießen. Er wird das Geheimnis mit Sicherheit ebenfalls für sich behalten. Doch halte dein Geheimnis auf diesen engen Kreis beschränkt. Je mehr davon wissen, umso gefährlicher ist es.“
„Von welcher Gefahr sprecht Ihr immer? Meint Ihr, dass Drogo einen weiteren Grund bekommen könnte, über mich herzufallen? Damit werde ich schon fertig! Es wäre nicht die erste Häme und Prügel, die ich einstecken müsste.“
„Ich weiß sehr wohl, dass du damit zurechtkommst, unter anderem auch mit Hilfe deiner beiden Freunde. Doch glaube mir, der Kreis deiner Gegenspieler ist weitaus größer und einflussreicher, als du dir im Augenblick vorstellen kannst. Er beschränkt sich keineswegs nur auf Drogo und dessen Freunde.“
Jetzt verstand Faolán überhaupt nichts mehr. Welche Gegenspieler sollte er als kleiner, unscheinbarer Novize außer diesem aufgeblasenen Grafensohn denn noch haben?
Bruder Ivo lieferte unaufgefordert die Antwort.
„Es ist schwer zu erklären, warum es sich so verhält. Aber eines solltest du wissen: Es gibt im Kloster einige Mönche, die meine und des Abtes Fürsorge um dich noch nie befürwortet haben. Ich will hier nur den Namen Walram erwähnen und du wirst verstehen, was ich meine.“
Plötzlich erinnerte sich Faolán wieder an Prior Walrams brutale Züchtigungen nach dem berüchtigten Vorfall im Skriptorium. Jetzt begriff er, dass die Strafe damals nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen den Abt und den Cellerar gerichtet war. Walram war ein Gegner des Abtes, das wusste Faolán schon lange. Doch niemals zuvor hatte er geglaubt, dass Begünstigte des Abtes dadurch den Prior ebenfalls zum Gegner haben würden.
„Es gibt auch Menschen außerhalb des Klosters, die das Wissen um das Mädchen gegen dich nutzen könnten. Selbst wenn sie dieses Wissen nicht sofort gegen dich verwenden könnten, würden sie geduldig auf eine Gelegenheit warten. Je härter dich ihr Schlag trifft, umso mehr