Dem Mönch war bei seiner kurzen Inspektion der Wunde nichts entgangen. Wunhold wartete geduldig auf eine Antwort, während er weiter an der dicken Paste arbeitete. Schließlich erklärte Faolán, er sei über einen Stein gestolpert und die Wunde wäre bei dem Sturz wieder aufgebrochen.
Bruder Wunhold schaute Faolán tief in die Augen, als erahne er die Lüge. „Mir scheint, dass der Stolperstein einen Namen trägt. Drogo, wenn mich nicht alles täuscht.“ Trotz ausbleibender Antwort nickte Bruder Wunhold sich selbst leicht zu, als verstünde er Faoláns Dilemma. „Wirklich ein harter Brocken, über den man schnell stolpern kann.“
Faolán schaute beschämt zu Boden. Er war bei einer Lüge ertappt worden. Das war nicht nur ein Verstoß gegen die Regeln des heiligen Benedikt, sondern sogar eine Missachtung der Zehn Gebote! In der Regel zog jede Lüge eine harte Strafe nach sich, doch statt großes Aufsehen zu erregen, ging Bruder Wunhold nicht weiter darauf ein. Faolán schaute ihm stumm zu und vergaß dabei beinahe, das getränkte Leinen auf die Wunde zu pressen. Seiner Schmerzen wurde er sich erst wieder bewusst, als der Heiler die Verletzung erneut auswusch. Anschließend trug er einen Teil der Paste auf ein sauberes Tuch auf, legte es direkt auf die Wunde und fixierte es mit einer Binde um den Kopf. Der Schmerz strahlte noch weit über die linke Gesichtshälfte, aber Faolán hoffte auf baldige Linderung durch den Verband, der angenehm kühl auf der heiß pulsierenden Wunde ruhte.
Bruder Wunhold betrachtete sein Werk und war mit dem Ergebnis zufrieden. „Komm’ morgen zur gleichen Zeit wieder, damit ich mir die Wunde ansehen und den Verband wechseln kann. Halte die Wunde sauber! Das ist bei einem solchen Biss besonders wichtig. Sollte sie verunreinigt werden – vielleicht durch einen erneuten Sturz über einen gewissen Stein – so zögere nicht und eile sofort zu mir.“
Faolán nickte, bedankte sich für den Verband und verließ die Kräuterkammer. Kaum hatte er das Hospital hinter sich gelassen, bemerkte er aus den Augenwinkeln zwei Novizen, die ihm mit einigem Abstand folgten. Er hatte keine Lust, erneut davonzulaufen und blieb geradewegs stehen, ohne sich umzudrehen. Er war auf Drogo vorbereitet.
„Dieser Verband sieht nicht besonders vorteilhaft aus. An deiner Stelle würde ich die Kapuze überziehen. Es könnte dir einigen Spott ersparen.“
Mit Erleichterung erkannte Faolán die Stimme seines Freundes Konrad, der ihm mit Ering nachkam. Seit ihrem ersten Treffen waren Faolán und Konrad wie Pech und Schwefel: eng verbunden in einer besonderen Freundschaft. Obwohl sie in ihrem Wesen sehr verschieden waren, waren sie doch unzertrennlich, ja beinahe schon Verschworene im Kampf gegen die Übergriffe des Grafensohnes.
Konrad war muskulös und verbrachte seine freie Zeit lieber damit, sich an geheimen Orten körperlich in verschiedensten Kampftechniken zu trainieren, statt sich den Lehren der Abtei zu widmen. Beim Klosterunterricht war ihm Faolán eine große Stütze. Wenn es arithmetische Probleme in der Klosterschule zu lösen galt, gab es keinen geschickteren Novizen als Faolán. Gleiches galt für die Sprachen in Wort oder Schrift, welche die Knaben lernen mussten. Stets war Faolán Konrad eine Hilfe im geistigen Kampf.
Konrad war im Kloster eigentlich fehl am Platz. Als jüngster Sohn eines Kleinadligen befand er sich gegen seinen Willen in der Obhut der Benediktiner. Für seine Eltern aber war das Kloster die einzig sinnvolle Lösung gewesen. Es war für sie schon schwer genug, seine vier älteren Brüder durchzubringen und einen von ihnen zum Ritter ausbilden zu lassen. Zu gerne wäre Konrad an dessen Stelle. Aus diesem Grunde war sein vorrangigstes Ziel auch nicht das Ablegen des Mönchsgelübdes, sondern das Anlegen einer Rüstung. Er war der geborene Kämpfer. Doch gegenwärtig hatte Konrad keine andere Wahl, als den Weg eines Novizen zu gehen, so sehr ihm das auch widerstreben mochte.
Konrad war mit seinen dreizehn Jahren etwas älter als Faolán und fest entschlossen, das Kloster so bald wie möglich zu verlassen. Er wollte seine Dienste einem wohlhabenden Adligen anbieten, dass er ihn zum Ritter ausbilden möge.
Selbstverständlich waren Kampfübungen im Kloster nicht geduldet und insofern zeitlich wie räumlich kein einfaches Unterfangen. Mit Faoláns Hilfe standen ihm allerdings oft die entlegenen Lagergebäude zur Verfügung, wo er nur von seinem Freund beobachtet wurde. Die Übungen führte Konrad meist mit seinem Stab aus Eichenholz durch. Eine kleinere Variante davon trug er stets im Ärmel seiner Kukulle versteckt mit sich, sollte Drogo unerwartet auftauchen. Anleitung für den Umgang mit dieser Waffe war eine Niederschrift, die Faolán vor einiger Zeit zufällig in die Hände gefallen war. Dieses Buch befasste sich mit den Kampfkünsten unterschiedlicher Stile. Sie war in einer fremdländischen Schrift verfasst und mit außergewöhnlich naturgetreuen Bildern illustriert, die Konrad als Anleitung dienten.
Faolán wusste bis heute nicht, welcher Wahn ihn damals veranlasst haben mochte, ein Buch zu entwenden, zumal er es noch nicht einmal lesen konnte. Zu seiner Erleichterung schien das Werk von niemandem vermisst zu werden, und so hielt er es versteckt, so lange Konrad es benötigte.
Der zweite Novize, der jetzt auf Faolán zukam, war Ering. Dem Gemüt nach glich er mehr Faolán. Das war aber auch schon die einzige Gemeinsamkeit. Hager von Statur, war er ein aufgeweckter Junge, der seinen Verstand einzusetzen wusste, vor allem im Disput. Dies zeigte sich in Bemerkungen, die mit Sarkasmus gespickt waren und oft auf den tumben Drogo abzielten. Der verstand diesen Sarkasmus allerdings nicht und schaute meist irritiert auf, wenn nach Erings Aussprüchen die Umstehenden in plötzliches Gelächter ausbrachen. Das brachte Ering jedoch ganz nach oben auf Drogos persönlichem Register seiner Gegner.
Ering war etwa zwei Jahre nach Faolán dem Kloster beigetreten. Zu Beginn hielt er sich bedeckt, mischte sich nirgends ein. Er war ein Außenseiter. Doch der anhaltende Konflikt zwischen Faolán und Drogo blieb auch ihm nicht verborgen. Eines Tages bezog er schließlich Position und stellte sich unerwartet auf Faoláns Seite. So entstand schon bald eine besondere Freundschaft mit Faolán und Konrad. Eine Freundschaft, die von den übrigen Novizen schnell den Beinamen „Dreigestirn“ bekam. Ein Name, den sie nicht ohne einen gewissen Stolz trugen.
Im Gegensatz zu Konrad war Ering mit Leib und Seele Novize. Er wollte sobald wie möglich die Mönchsweihe empfangen, um seiner Berufung zum Priester nachgehen zu können. Das war nicht nur der vorübergehende Wunsch eines Jungen, sondern eine feste Überzeugung, an der Ering keinen Zweifel ließ. Er wollte sein Leben dem Herrn widmen und für das Seelenheil der anderen sorgen.
Ering konnte mit Worten viel erreichen. Er verstand es, behutsam und ruhig zu argumentieren, Schriften auszulegen und zu interpretieren, aber auch andere zu überzeugen und zu begeistern. Faolán konnte sich Ering sogar als Oberhaupt eines Klosters vorstellen, denn er besaß den notwendigen Ehrgeiz dazu.
Faolán bewunderte die Pläne seiner Freunde, weil er selbst keine vorzuweisen hatte. Zwar fühlte er sich im Benediktinerkloster zuhause, doch im Innern wusste er, dass er nicht auf ewig hier bleiben würde. Woher er das wusste, konnte er nicht genau sagen, dieses Gefühl war einfach vorhanden.
Faolán schob diese Gedanken beiseite, als seine beiden Freunde vor ihm standen. Konrad sprach ihn auf den Verband an. „Hast du wenigstens den Kampf gewonnen? Und wie sieht dein Gegner aus? Liegt er im Hospital?“
„Du redest, als hätte er gegen Drogo eine Chance“, stellte Ering fest.
„Nicht Drogo. Ich meinte die Ratte“, verteidigte sich Konrad und ein verschmitztes Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen.
Überrascht wandte sich Faolán ihm zu: „Wieso wisst ihr darüber Bescheid?“
Noch bevor er die Frage ausgesprochen hatte, kannte er bereits die Antwort. Ering erklärte die Lage dennoch: „Drogo posaunt es überall herum. Wahrscheinlich entspricht nur die Hälfte davon den Tatsachen, um dich lächerlich zu machen. Wir haben uns deshalb schon eine Gegenstrategie ausgedacht, um seinen Plan zu durchkreuzen. Dabei kämpfen wir mit seinen eigenen Waffen.“
Sie trugen ihren Plan vor und der