Diese Aussicht ernüchterte Svea und enttäuscht klang ihre Frage: „Wie ein ungeliebter Hund soll ich durch Neustatts Straßen ziehen?“
„Die anderen werden dich wie einen solchen behandeln. Doch du wirst listig und schnell wie ein Fuchs werden. Du wirst lernen, ihnen immer einen Schritt voraus zu sein und sie, wenn nötig, an der Nase herumführen.“
„Sie an der Nase herumführen? Wie soll ich das denn anstellen?“
„Wie du dir vorstellen kannst, war auch ich einmal ein kleines Mädchen. Und du kannst mir glauben, ich war auch nicht immer damit zufrieden, hier auf dieser Lichtung allein mit meiner Mutter zu hausen. Ich wusste, dass es im nächsten Dorf noch andere Kinder gab und so schlich ich mich ab und an davon, um dort meine Erfahrungen zu sammeln. Glaube mir, das habe ich gemacht und es waren nicht die schlechtesten. Ich kann dir sicherlich noch den einen oder anderen Kniff aus meiner Kindheit beibringen. Den Rest wirst du selbst lernen.“
Svea traute ihren Ohren nicht. „Du hast es früher selbst getan, als kleines Mädchen?“ Diese Vorstellung schien Svea zu belustigen und sie musste so herzlich lachen, dass Alveradis darin einstimmte.
„Ja, das habe ich. Denn ich habe damals auch nicht immer auf das gehört, was meine Mutter mir gesagt hat. So weise ich dir heute vielleicht erscheinen mag, so frech, unvorsichtig und waghalsig war ich als Kind. Auch ich habe manche Schelte von meiner Mutter bekommen.“
Erneut musste Svea kichern und konnte sich nicht vorstellen, dass Alveradis jemals ungehorsam gewesen sein sollte. „Und welches Dorf war es, in das du dich geschlichen hast?“
„Du kennst es. Heute ist es eine kleine Stadt.“
„Neustatt?!“
Alveradis nickte.
„Glaube mir: Es gibt Wege, ungesehen hineinzugelangen.“
„Und du wirst mir beibringen, wie ich es anstellen kann!“ Als wäre dies das größte Geschenk auf Erden, sprang Svea an Alveradis empor und umarmte sie, dass die alte Frau beinahe hinten über fiel. Jetzt wusste Svea, dass sie sich für längere Zeit hier wohlfühlen würde. Sie musste nicht auf ihre Brüder verzichten und konnte jeden Tag bei Alveradis sein. Sie würde von ihr lernen und sich in ihre Geheimnisse einweihen lassen. Als sie sich dessen bewusst wurde, empfand Svea etwas, dass sie bisher nur selten verspürt hatte: Glück! Sie war glücklich und sehr zufrieden mit ihrer Entscheidung, im Wald bei Alveradis zu bleiben.
Anno 962 – Zerwürfnisse
Der groß gewachsene, drahtige Faolán lief oft flink über die Klosteranlage oder durch die langen Arkadenflure. Er war stets unterwegs, meist im Laufschritt. Bei einigen Mönchen rief diese Hast Unbehagen hervor. Nicht nur, weil der Novize dazu meist sein Habit bis über beide Knie anhob, um schneller laufen zu können, sondern weil es sich nicht gebührte, als Diener des Herrn hastig einherzurennen.
Faolán hatte inzwischen gelernt, vor den missbilligend dreinblickenden Mönchen seinen Gang zu verlangsamen und gemächlich vorüberzuschreiten, denn seine Eile war in der Vergangenheit nicht immer ungestraft geblieben. Er tat es allerdings mit Ungeduld, denn er wollte möglichst schnell von einem Ort zum anderen gelangen, wenn er als Gehilfe des Cellerars Botengänge erledigte.
Während der vergangenen Jahre hatte er aus verschiedenen Gründen gelernt, durch das Kloster zu eilen. Manchmal täuschte er eine dringliche Aufgabe vor, selbst wenn ihm Bruder Ivo keine auferlegt hatte. Das hatte ihn bereits einige Male vor unliebsamer Arbeit geschützt, die ihn mit Sicherheit erwartet hätte, wäre er beim Müßiggang angetroffen worden.
Schließlich begann der 48. Artikel der regula benedicti mit den Worten ‚Müßiggang ist der Seele Feind!
Die Brüder waren sehr bestrebt, diesen Feind von den jungen Novizen fernzuhalten. Faolán hingegen wollte sich dieser Regel nicht stetig unterwerfen und so diente ihm das Laufen als nützliche Täuschung.
Die meisten Mönche ließen den Novizen daher in Ruhe. Im Gegensatz dazu interessierte sich Prior Walram um so mehr für ihn, denn der hatte offensichtlich ein besonders wachsames Auge auf ihn geworfen. Manchmal glaubte Faolán sogar, dass Walram ihn regelrecht hasste, obwohl er ihm hierfür nie einen Grund geliefert hatte.
Der Prior brachte es auf verblüffende Art immer wieder fertig, Faolán in ungelegenen Augenblicken aufzuspüren und ihm beschwerliche Arbeiten aufzubürden. Der Novize hatte sich mit dieser Tatsache abgefunden und versuchte daher, vor allem Walram aus dem Weg zu gehen.
Der Cellerar wusste um Faoláns Täuschung der anderen Mönche, doch er unternahm nichts dagegen. Vielmehr vertrat er die Ansicht, dass sein Gehilfe seine Aufgaben tadellos und schneller erledigte als alle anderen Novizen und dass der Junge dafür gelobt, statt mit zusätzlicher Arbeit bestraft werden sollte.
Faolán war nämlich sehr oft nachdenklich und schwermütig, und Ivo war überzeugt, dass dem Knaben diese freie Zeit ganz gut bekäme. Er kannte immerhin Faoláns Vergangenheit. Der Junge war Ivo mit den Jahren ans Herz gewachsen, mehr als er es eigentlich zulassen wollte. Manchmal glaubte er gar, dass er eine Art Vaterliebe für ihn empfand, wenngleich ihm dieses weltliche Gefühl fremd war.
Im Kloster gab es noch einen weiteren Menschen, für den Faolán etwas Ähnliches empfand wie für Bruder Ivo, und das war der Abt selbst. Allerdings war der Kontakt zum Klosteroberhaupt bei weitem nicht so intensiv wie zum Kellermeister. Gerade weil der Novize selten zum Abt beordert wurde, genoss er diese wenigen Stunden der Lehre umso mehr. Das Wissen dieses Mannes war derart umfangreich, dass Faolán schon bald glaubte, es gäbe nichts, was der Abt nicht wusste.
So verstrichen Faoláns ersten Jahre im abgelegenen Benediktinerkloster. Er hatte in dieser Zeit gelernt, sowohl mit den schönen wie auch mit den widrigen Umständen zurechtzukommen. Das Kloster war schnell zu seiner Heimat geworden, denn an ein Leben vor der Gemeinschaft konnte er sich nicht erinnern. Und obwohl er selbst nicht sagen konnte, in welchem Jahr er geboren wurde, so schenkte er dem Cellerar Glauben, dass er bereits zwölf Jahre zählte.
Der Frühling hatte Einzug gehalten und Faolán war froh darüber, sich endlich wieder nur mit der leichten Kukulle bekleidet auch außerhalb der dicken Mauern aufhalten zu können. Noch steckte die Winterkälte in den steinernen, großen Gebäuden, vor allem in den Vorratskellern, in denen er oftmals seinen Aufgaben nachging. Nur in den hölzernen Ställen, Vorratsspeichern und Tierverschlägen nahm die Behaglichkeit durch das wärmere Wetter bereits zu. Doch allein die Tatsache, dass die Vögel in der Sonne vergnügt ihre Lieder sangen, genügte, um sein Gemüt zu erheitern.
Am liebsten hätte er unter einem der blühenden Kirschbäume gelegen, doch heute musste er mit dem Kellermeister die Lagerbestände vor dem ersten Marktgang des Jahres aufnehmen. Faolán zählte ab, kletterte auf den hohen Regalen umher und schaute in große Fässer, während Bruder Ivo die angegebenen Zahlen im Kopf addierte und mit einem Federkiel sorgfältig im Register niederschrieb. Die Sicherheit des Cellerars im Umgang mit Zahlen war eine Gabe, die Faolán bewunderte. Bruder Ivo unterrichtete seinen Gehilfen gerne in der Kunst der Arithmetik, denn Faolán zeigte sich darin ebenfalls sehr geschickt. Ähnlich gut beherrschte er inzwischen mehrere Sprachen in Schrift und Wort, sowie die Grundlagen der christlichen Lehre. Bruder Ivo machte ihn zudem mit vielen praktischen Dingen des Alltags vertraut.
Der Unterricht war im Augenblick jedoch in weiter Ferne. Bruder Ivo hatte Faolán eine besondere Aufgabe zugeteilt, die er wegen seiner Körperfülle nicht selbst verrichten konnte. Er war fest davon überzeugt, dass sich hoch oben auf einem Regal noch zwei Ballen dunkel