Verzweifelt schaute sie in alle Richtungen, strich sich dabei immer wieder über das zerzauste, kurze Haar. Als sie sich dessen bewusst wurde, erinnerte sie sich, weshalb sie es so kurz geschnitten hatte: nur, um ihrem Vater zu gefallen.
Plötzlich vernahm Svea ein Rascheln aus dem nahen Gebüsch. Sicherheitshalber versteckte sie sich hinter der geöffneten Tür und beobachtete durch einen Spalt, wer sogleich auf der Lichtung erscheinen würde.
,Vielleicht ist es Ulf', schoss es ihr durch den Kopf. Ihr Vater konnte sich gewiss denken, wohin seine widerspenstige Tochter gelaufen war. Svea machte sich auf alles gefasst. Sie war so angespannt, als müsse sie gleich davonlaufen.
Doch statt des Bauern erschien Alveradis. Sie trug zwei große Wasserschläuche über den Schultern und kam direkt auf das kleine Haus zu. Svea ließ erleichtert den Atem fahren und trat aus ihrem Versteck.
„Guten Morgen, mein Kind“, strahlte Alveradis das Mädchen an.
So liebevoll war sie noch nie zu Beginn eines Tages begrüßt worden, stellte Svea fest.
Weshalb konnte ihr Vater nicht ein kleines bisschen wie Alveradis sein? Überrascht bemerkte sie, dass sie ihn trotz seiner ständig schlechten Laune und der Schläge vermisste. Und sie vermisste ihre beiden Brüder, die noch im Haus lebten.
„Guten Morgen“, antwortete Svea mit belegter Stimme.
„Ich habe frisches Wasser von der Quelle geholt. Es wird dir schmecken und deine Lebensgeister wecken.“
Alveradis holte einen hölzernen Becher und schenkte dem Mädchen ein. Svea nahm das Gefäß dankbar entgegen und trank in einem Zug aus. Den zweiten Becher trank sie auf einer kleinen Bank vor der Hütte, gemeinsam mit der alten Frau. Sie saßen schweigsam und nachdenklich, und Alveradis ließ dem Mädchen Zeit, wofür Svea dankbar war. Sollte sie noch einmal über die Ereignisse des gestrigen Tages sprechen wollen, so würde sie zu gegebener Zeit von selbst beginnen.
Der Tag schritt voran. Als sei es selbstverständlich, half Svea bei allem, was an Arbeit anfiel. Mit der Zeit sprach sie wieder, jedoch nur über belanglose Angelegenheiten. Alveradis unterrichtete sie weiter und ihre Gehilfin sog alle Erklärungen auf wie ein trockenes Tuch Wasser. Am Abend gab es ein kleines Mahl und als sich die Nacht über der Lichtung ausgebreitet hatte, betteten sie sich zur Ruhe. Auf diese Weise vergingen einige Tage: Die beiden arbeiteten, sammelten Nahrung im Wald, speisten und sprachen miteinander, als wäre es nie anders gewesen.
Mittags saßen sie oft vor der Hütte, bereiteten Heilmittel zu oder sortierten das Gesammelte aus dem Wald. So auch heute. Svea säuberte gerade ein paar Wurzeln, die sie für das Mahl ausgegraben hatten, als sie ein Rascheln im Gebüsch vernahm. Erschrocken sah sie Alveradis an, die es ebenfalls wahrgenommen hatte.
„Es kommt jemand“, stellte das Mädchen beunruhigt fest. Noch nie war jemand auf der Lichtung erschienen, wenn sie dort gewesen war.
Alveradis blieb gelassen, als sei es nichts Außergewöhnliches. „Vielleicht einer der Männer aus dem Wald. Die Geächteten und Verstoßenen suchen mich zuweilen auf, wenn sie meine Hilfe benötigen.“
Svea erschrak, als sie sich einen Geächteten vorstellte. Sie hatte bereits viel über sie gehört. Es waren Halsabschneider und Diebe, Räuber und Schänder, die in keinem Dorf und keiner Stadt mehr geduldet waren. Männer und auch Frauen, die ein kleines Mädchen besser meiden sollte. Ängstlich rutschte sie näher zu Alveradis.
„Keine Sorge, mein Kind. Meist ersuchen sie mich um meine Dienste und bringen als Gegenleistung etwas Nahrung mit. Ein erlegtes Tier oder wilde Früchte. Ich kenne die meisten von ihnen und bisher hat mir noch niemand Leid zufügen wollen, ganz gleich, welchen Verbrechens sie schuldig gesprochen wurden.“
Trotz der beruhigenden Worte blieb Svea in der Nähe der weisen Frau und erwartete, im nächsten Augenblick einen wüsten Mann zu erblicken. Als dann allerdings ihr Vater auf der Lichtung erschien, erschrak sie derart, dass sie sich mit einem schrillen Quieken ängstlich hinter Alveradis verbarg.
Die Kräuterfrau erhob sich sogleich und trat dem Bauern ein paar Schritte entgegen, bis dieser stehen blieb. Er wirkte unsicher, als hätte er nicht erwartet, hier auf Alveradis zu treffen. Sollte er tatsächlich geglaubt haben, Svea allein hier überraschen zu können, so hatte er sich getäuscht.
Ulf stand unsicher da, mit seiner löchrigen Kleidung und seiner fleckig schmutzigen Haube auf dem Kopf. Er strich sich über die unrasierten Wangen und schien zu überlegen, was er jetzt tun sollte. Finster starrte er Alveradis an und machte schließlich einen Schritt zur Seite, um Svea besser sehen zu können. Barsch sprach er sie an, als stünde die Kräuterfrau nicht vor ihm.
„Pack dich und komm’ mit!“
Doch Svea gehorchte nicht. Stattdessen machte sie einen Schritt zurück, als beabsichtige sie zu fliehen. Um dies zu verhindern, wollte Ulf entschlossen auf sie zugehen. Alveradis versperrte ihm jedoch den Weg. Überrascht hielt der Bauer inne und blickte die gefürchtete Frau hasserfüllt an. Seine Stimme klang wie ein bedrohliches Zischen, und seine Hände ballten sich, als er sie ansprach.
„Geh’ mir aus dem Weg, Weib!“
„Wenn du zu Svea willst, so musst du erst an mir vorbei. Allerdings werde ich dich nicht so einfach durchlassen.“
„Das ist meine Tochter, vergiss das nicht!“
„Ich kann mich noch sehr gut an den Tag erinnern, als ich ihr auf diese Welt geholfen habe. Dich habe ich damals kaum zu Gesicht bekommen!“
„Willst du deshalb einen Anspruch auf Svea erheben? Ist das deine Absicht?“
„Ich erhebe gar nichts, noch nicht einmal meine Hände. Schon gar nicht gegen ein unschuldiges Kind.“
„Halt’ dein gotteslästerliches Maul, du teuflisches Weib. Zieh’ dich in deine Hütte zurück und treib’ dort, was du willst! Doch lass mich in Frieden mit deinen Sprüchen. Ich nehm’ Svea jetzt mit, egal was du dagegen hast.“
Ulf wollte gerade an Alveradis vorbeischreiten, als sie ihn am Arm packte und anherrschte: „Das wirst du nicht tun!“
Ungläubig blickte Ulf erst auf die Hand, die es wagte, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten, dann in die Augen der Alten und raunte bedrohlich: „Lass’ mich sofort los oder ich vergess’ mich.“
Die Weise ließ ihn tatsächlich los, doch stellte sie sich erneut zwischen Ulf und Svea. So leicht würde der Bauer nicht zu seiner Tochter gelangen, mochte er noch so viele Drohungen aussprechen.
„Svea wird nicht mit dir gehen. Sie bleibt bei mir.“
„Du hast darüber nicht zu entscheiden. Mach endlich Platz!“
„Es ist auch nicht meine Entscheidung, sondern Sveas.“
Dies schien Ulf zu überraschen, denn er hielt inne und richtete sich auf. Forschend schaute er Svea an, die ängstlich ein paar weitere Schritte zwischen sich und ihren Vater gebracht hatte, dann wandte er sich wieder an Alveradis.
„Das ist dein Werk, Teufelsweib. Ich erkenn’ es wieder, wie damals bei meinem ersten Weib. Ich warn’ dich, halt’ meine Tochter nicht unter deinem Bann, sonst wird Gott dich dafür bestrafen.“
Da musste Alveradis lauthals lachen.
Verärgert über die Wirkungslosigkeit seiner Drohung, strafte Ulf sie mit einem verächtlichen Blick. Er schien allerdings vorsichtig geworden zu sein, denn er trat auf sichere Entfernung zu Alveradis zurück. Vielleicht befürchtete er, selbst in den Bann dieser wilden Frau zu geraten. Noch bevor er sich darüber klar werden konnte, sprach Alveradis, lauter als zuvor:
„Du redest Unsinn, Ulf.