Die Besprechung war denkbar schlecht verlaufen und Walram fluchte leise vor sich hin. Es war ihm gleich, wie gotteslästerlich er in diesem Augenblick war. Seine Taten spotteten ohnehin allen christlichen Geboten. Erneut fluchte er auf die dunkelste Art, die ihm in den Sinn kam. Wütend griff er nach dem unberührten Becher auf dem Tisch und schenkte sich voll ein. Schnell leerte er ihn und füllte ihn ein zweites Mal. Kurz bevor der Becher erneut seine Lippen berührte, verharrte seine Hand, als sei sie erstarrt. Walram schloss die Augen. Sein Atem ging schnell und Zorn stieg in ihm auf. Sein Griff um den Becher wurde immer fester, bis seine Knöchel weiß hervortraten und die Hand immer stärker zu zittern begann.
Wofür all die Mühe, der Aufwand und das Risiko?
In diesem Augenblick schien es ihm, als habe er Rurik zu seiner jetzigen Position und Macht nur deshalb verholfen, damit dieser ihn mit Hohn verspotten konnte. Als wäre das noch nicht genug der Demütigung, musste Walram jetzt auch noch über die Erziehung von Ruriks missratenem Sohn wachen. Er ging als Betrogener aus dieser Vereinbarung hervor, denn alle Versprechungen und Entlohnungen lösten sich vor seinen Augen in nichts auf.
Mit einem Mal begriff Walram, dass er seinen Zielen ferner war denn je. Er war machtlos dagegen! Mit einem wütenden Schrei aus tiefstem Herzen warf er den vollen Becher an die gegenüberliegende Wand, dass er mit einem lauten Knall zerbarst.
Mit beiden Händen musste sich Walram an dem kleinen Tisch festhalten. Mit geschlossenen Augen blieb er so stehen, bis sich sein Atem wieder beruhigt hatte und er einigermaßen klar denken konnte. An all seinen Problemen war nur dieser verfluchte Junge schuld. Rogar, wie er diesen Namen hasste! Oder Faolán, es war ihm ganz gleich! Dieser Junge personifizierte seine Niederlage. Ebenso Degenar, samt seinem Busenfreund Ivo. Wie er sie abgrundtief hasste, alle drei! Allein beim Gedanken an sie schürzte sich Walrams Oberlippe und er entblößte seine Zähne wie ein angriffslustiger Wolf.
Es musste etwas geschehen! Entschlossen ballte Walram seine Hände, öffnete die Augen und richtete sich bestimmt auf. Ja, er musste handeln, auch wenn sein Handeln länger dauern würde, als ihm lieb war! Er musste eine Lösung finden, ganz gleich welcher Art, und sie in die Tat umsetzen. Doch zunächst musste er ins Kloster zurückzukehren. In das Kloster, das er schon bald als das seine bezeichnen könnte, sobald man ihn zum Abt gemacht hatte.
Abt Walram – das klang versöhnlich in seinen Ohren. Mit neuem Elan verließder Prior die kleine, kalte Kammer.
Anno 957 – Sveas Entscheidung
Mit ein paar leichten Hieben ihrer Weidenrute trieb Svea die Schweine vor sich her. Die Sonne stand bereits tief am Himmel, und sollte sie nicht bald zu Hause eintreffen, drohten Schläge von ihrem Vater. Sie konnte die Dächer Neustatts bereits in der Ferne erkennen und war froh, dass sie noch rechtzeitig das Tor im Palisadenwall passieren würde, bevor man es die Nacht über schloss.
Der Sommer war bisher angenehm warm gewesen. Weder Regen noch kalte Winde bewegten Svea dazu, früher als notwendig zum schäbigen Hof ihres Vaters zurückzukehren. Viel lieber verweilte sie, solange es hell war, im Wald oder auf der Lichtung mit der windschiefen Hütte, wo Alveradis lebte. Bei ihr durfte Svea so lange bleiben, wie es ihr beliebte, und bei der Pflege des Gartens helfen. Ebenso unterstützte sie die Alte bei der Verarbeitung der Kräuter zu Heiltränken oder Pasten. Alveradis erklärte ihr jeden Handgriff: Weshalb er notwendig war, welche Wirkung die Kräuter besaßen und welche alten Geschichten sich dahinter verbargen.
Das Mädchen sog all das Wissen in sich auf und fühlte sich geehrt, dass Alveradis es ihr anvertraute. Für Svea war die Unterweisung bei der Kräuterfrau etwas Besonderes, denn ihr Vater hatte ihr noch nie etwas beigebracht oder erklärt. Svea durfte auf Ulfs Hof nur die einfachsten Arbeiten verrichten und meist hatte sie damit zu tun, den Dreck der anderen zu beseitigen; auch den des Viehs.
Ihrem Vater hatte sie die unregelmäßigen Besuche bei Alveradis bisher verschwiegen. Ulf war nicht gut auf diese wilde Frau, wie er sie nannte, zu sprechen, und so glaubte Svea, es sei besser, diesen Umstand weiter zu verheimlichen. Um keinen Verdacht oder Fragen zu ihrem Verbleib aufkommen zu lassen, hielt sie die Besuche auf der Lichtung in der Regel möglichst kurz. Heute allerdings hatte sie vergessen, den Stand der Sonne im Auge zu behalten, so vertieft war sie in ihre Aufgaben gewesen.
Rechtzeitig heimgekehrt trieb Svea die Schweine in den Pferch und verriegelte das Gatter. Sie war außer Atem und wischte sich den verräterischen Schweiß von der Stirn. Als wolle sie sich selbst kontrollieren, fuhr sie sich durch das kurz geschorene, wild und zerrupft aussehende Haar. Sie zerwühlte es ein bisschen, wie sie es sich in diesem Frühjahr angewöhnt hatte, um es wie Brun zu tragen. Svea hatte sich bewusst für das kurze Haar wie es die Knaben trugen entschieden, denn ihr Vater mochte keine Mädchen. Sie glaubte, dass seine Abneigung gegen sie darin begründet war, dass sie kein Junge war, und versuchte alles, um wenigstens auf diese Weise etwas Liebe von ihm zu erhalten. Svea wusste zwar nicht, ob es jemals zum erwünschten Erfolg führen würde, doch einen Versuch war es wert.
Thorben unterstützte sie bei diesem Vorhaben, denn er mochte seine Schwester. Manchmal nahm er sie abends sogar mit aus dem väterlichen Haus und versuchte ihr beizubringen, wie Jungen gingen, wie sie lachten, ausspuckten oder wie sie derb miteinander sprachen. Svea gefiel das Wenigste von alldem, doch sie versuchte bereitwillig das umzusetzen, was Thorben ihr geduldig beizubringen versuchte.
Heute Abend allerdings würde er dazu keine Zeit mehr haben. Als Svea wieder einigermaßen ruhig atmete, lief sie in das Haus. Darin war es selbst bei helllichtem Tage ziemlich düster und es roch muffig nach Qualm und Schweiß. Ein wenig Licht fiel durch den Rauchabzug im First des Daches. Außer der Tür gab es lediglich noch kleine Öffnungen an den Spitzen der Giebelwände und so blieb diese meist offen stehen, um die Hitze des Feuers und die dicke, stehende Luft aus dem Haus zu treiben. Ernüchtert stellte Svea fest, dass es überflüssig gewesen war, sich den Schweiß abzuwischen, denn er trat ihr gleich wieder auf die Stirn, kaum hatte sie das Haus betreten.
An der Feuerstelle stand Ulfs neue Gemahlin, Gertha, die gerade die Glut des niedergebrannten Feuers abdeckte. Danach trug sie den Kochkessel, in dem die allabendliche Mahlzeit zubereitet wurde, zum Tisch und schöpfte Brei in eine Schüssel. Ulf hatte sie im Frühjahr geehelicht, und der Grund dafür war an ihrem runden Bauch deutlich zu sehen.
Thorben und Brun hatten anfangs gehofft, dass sich mit einer Frau im Haus ihre Lage verbessern würde, da sich einer von ihnen bisher immer um die lästigen Arbeiten im Haus und um die Feuerstelle hatte kümmern müssen, wurden jedoch enttäuscht. Gertha war ein garstiges Weib und hörte einzig auf Ulfs Anweisungen. Wenn der Hausherr nicht zugegen war, erhob sie sogar die Hand gegen die beiden Jungen, gegen Svea ohnehin. Mehrfach hatte Thorben seinem Vater zu erklären versucht, dass es so nicht weitergehen könne, doch Gertha vollbrachte es immer wieder, Ulf mit Engelszungen davon zu überzeugen, dass Thorben im Unrecht und sie die Gepeinigte sei.
Auf Svea war sie von Anfang an schlecht zu sprechen gewesen. Nichts konnte das Mädchen ihr im Haus oder auf dem Hof recht machen. Selbst wenn Svea glaubte, ihre Arbeit gut gemacht zu haben, bekam sie meist Schelte oder gar eine Backpfeife. Gertha fand immer einen Grund, und wenn sie nur behauptete, dass Svea zu langsam gewesen sei.
Bei Gerthas Anblick senkte das Mädchen schnell sein Haupt und ging zu ihrem Platz am Tisch, wo ein Löffel lag. Ulf saß am Kopfende. Er schenkte ihr weder einen Blick noch unterbrach er das Löffeln des Getreidebreis, als sie sich auf die einfache Bank setzte. Ihre beiden Brüder saßen Svea gegenüber, an der Langseite des Tisches. Die Stimmung war bedrückend, dennoch zwinkerte Brun seiner Schwester kurz zu und schenkte ihr ein Lächeln.
Svea erwiderte es und griff nach dem Löffel, um aus der gemeinsamen Schüssel auf der Mitte des Tisches zu essen. Doch bevor sie ihn zum Munde führen konnte, begann Gertha zu schimpfen: „Hab ich’s dir nicht gesagt, Ulf: Um die Arbeit drückt sie sich, zum Stopfen ihres frechen Mauls kommt sie jedoch rechtzeitig zurück. Das muss aufhören! Ulf, sag doch was. Ich kann das Holz nicht mehr allein schleppen, sonst kommt dein Sohn zu früh auf die Welt!“
Gertha