„Wo warst du so lange?“ Sveas Herz begann so wild zu schlagen, dass sie es im Halse spürte. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte und zögerte. Ulf gab ihr keine Zeit zum Nachdenken: „Du warst bei ihr, nicht wahr?“
Svea versuchte ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen: „Ich weiß nicht, was …“
„Lüg’ mich ja nicht an! Ich bin dir heut’ gefolgt, bis zu dieser teuflischen Lichtung.“
„Das ist keine teuflische …“
„Du gibst also zu, dass du dort warst?“
„Nein …“
Mehr konnte Svea nicht sagen, da war Ulf schon aufgesprungen, schlug ihr mit voller Kraft ins Gesicht und schrie sie an: „Ich hab’ dich gewarnt!“
Der Schmerz brannte auf Sveas Wange. Mit Mühe unterdrückte sie einen Aufschrei und Tränen. Nur so konnte sie weitere Schläge verhindern. Ihr Vater stand abwartend da. Svea beherrschte sich und wagte nicht, ihn anzublicken. Nach einiger Zeit setzte Ulf sich wieder und aß weiter. Gertha ließ sich jetzt zwischen den beiden auf der Bank nieder und strahlte dabei eine gewisse Zufriedenheit aus. Doch anscheinend war sie nicht zufrieden genug, denn sie flüsterte ihrem Gemahl etwas ins Ohr, woraufhin er noch einmal das Wort an Svea richtete.
„Was treibst du dort? Sie bringt dir bösen Zauber bei, stimmt’s? Betet ihr auch Götzen an? Oder mischt ihr verwunschene Tränke?“ Svea hätte gerne geantwortet und ihm erzählt, was Alveradis tatsächlich tat, doch Ulf schien keine Antwort zu erwarten und polterte sogleich weiter. „Diese Wilde ist gotteslästerlich und treibt schändliche Dinge! Sie verdirbt dich, wie schon deine Mutter zuvor! Diese Wilde hat einen Dämon in sie gepflanzt, daran ist sie gestorben. Das reicht ihr wohl nicht. Jetzt will sie den gleichen Dämon auch in dich pflanzen.“
Vorsichtig und mit gesenktem Blick versuchte Svea, die Angelegenheit richtig zu stellen: „Das ist nicht wahr, sie …“
Diesmal sprang Ulf so überraschend auf, dass Gertha erschrocken von der Bank fiel. Instinktiv hob Svea ihre Arme schützend über den Kopf. Die Hiebe ihres Vaters waren hart und schnell, Svea war ihnen hilflos ausgesetzt. Wenige Atemzüge später lag sie auf dem Erdboden des kleinen Hauses und ließ mit geschlossenen Augen die Schimpftiraden ihres Vaters über sich ergehen. Sie hoffte, dass es bald vorüber sein würde. In der Regel verflog sein Zorn recht schnell. Bis dahin galt es, möglichst wenig Widerstand zu leisten. Drohend stand Ulf über ihr, bereit für weitere Hiebe, als er plötzlich verstummte und nichts weiter geschah.
Überrascht wagte Svea einen Blick hinauf und sah Thorben neben dem Vater stehen. Er hatte Ulfs Handgelenk ergriffen und weitere Schläge verhindert. Angespannt starrte Thorben in die zornigen Augen des Bauern, schnell atmend. Noch nie hatte er sich gegen seinen Vater gestellt und niemand wusste, wie Ulf darauf reagieren würde.
Der Junge nutzte den Moment der Überraschung und rief seine Schwester zur Besinnung: „Lauf, Svea. Schnell, lauf weg!“
Sie ließ sich das kein zweites Mal sagen, raffte sich auf und lief, ohne sich umzuschauen, aus dem Haus. Ratlos, wohin sie sich wenden sollte, rannte sie aus dem noch offen stehenden Palisadentor und die Straße entlang, bis zum Waldrand. Erst dort blieb sie keuchend stehen und schaute zurück. Erschöpft lehnte sie sich gegen einen Baumstamm, wischte das Blut von ihrer aufgeplatzten Lippe und schloss die Augen. Je ruhiger sie wurde, umso klarer begriff sie, was soeben geschehen war. Ulf hatte sie schon des Öfteren geschlagen, doch niemals zuvor mit dieser Heftigkeit, mit diesem Hass.
Eine große Traurigkeit überkam Svea. Ihre Beine begannen zu zittern und sie sank auf den Boden nieder und weinte. Es schien, als weinte sie nun all die Tränen, die sie über Jahre unterdrückt hatte. Sie weinte wegen der ungerechten Schläge ihres Vaters und wegen ihrer Mutter, die sie nie gekannt hatte und dennoch vermisste. Sie weinte wegen Thorben, der wahrscheinlich in Schwierigkeiten steckte. Und sie weinte, weil sie ein Mädchen war – der Grund, weshalb ihr Vater sie hasste. Sie musste etwas büßen, wofür sie keine Schuld trug. So saß sie da, mit sich und ihrem Schicksal hadernd, bis es keine Tränen mehr gab, die sie vergießen konnte.
Mit verweintem Gesicht stand Svea schließlich auf und ging in den Wald. Sie achtete nicht darauf, wohin sie ging. Die Sonne war längst hinter dem Horizont verschwunden und zwischen den Bäumen war es schon dämmrig. Immer häufiger stolperte das Mädchen über Wurzeln, Bruchholz oder Steine. Sie schlug sich die Knie auf, verspürte jedoch keinen Schmerz. Der Schmerz in ihrem Herzen war viel größer.
Selbst der einsetzende Regen vermochte all ihren Kummer nicht hinfort zu waschen. Immer weiter strauchelte sie benommen durch den düsteren Wald, bis plötzlich dichtes Buschwerk den Weg versperrte. Verblüfft schaute sie auf und erkannte trotz der Dunkelheit, dass sie an dem Dickicht angelangt war, das die Lichtung mit Alveradis’ windschiefer Hütte umgab. Es war der einzige Zufluchtsort, den sie kannte. Zu Georg und seiner Familie hätte sie nicht gehen können. Bei ihm würde Ulf als erstes nach ihr suchen, da er wusste, wie sehr Svea ihren ältesten Bruder mochte. Alveradis’ Hütte lag verborgen im Wald und nur die Kräuterkundige würde sie vollkommen verstehen.
Nach kurzem Zögern begab sich Svea auf den versteckten Pfad durch das Gebüsch und stand wenige Augenblicke später vor der kleinen Hütte. Noch nie war sie bei Nacht hier gewesen. Der Regen machte diesen Ort zu einem trostlosen und unheimlichen Flecken Erde. Zaghaft klopfte Svea an die Tür und wartete auf eine Antwort. Die Tür öffnete sich gleich und Alveradis blickte erstaunt auf das tropfnasse Mädchen herab. Als sie Sveas Zustand begriff, kniete sie sich besorgt nieder und empfing sie mit offenen Armen. Sie drückte das Mädchen liebevoll an sich und ließ es an ihrer Schulter weinen.
Nachdem sich Svea beruhigt hatte, brachte Alveradis sie in ihre kleine Hütte. Sie streifte dem Kind die nasse Kleidung ab und wickelte es in einen wollenen Umhang. Danach setzte sie das Mädchen an den kleinen Tisch und reichte ihr eine Schale mit heißer Brühe. Während Svea sie schluckweise leerte, begann die Kräuterfrau, die aufgeschlagenen Knie zu reinigen und die offenen Wunden und Prellungen mit einer Paste und Bandagen zu versehen. Danach setzte sie sich zu Svea und ließ sich erzählen, was vorgefallen war. Alveradis unterbrach sie dabei nicht, sondern hörte aufmerksam zu. Als das Mädchen nichts mehr zu berichten wusste, saßen beide zunächst stumm da. Doch Alveradis war keine Frau, die in einer solchen Situation tatenlos blieb. Sie überlegte eine Weile und schließlich unterbreitete sie Svea ein Angebot.
„Du kannst so lange bei mir bleiben, wie du es wünschst. Mach dir keine Sorgen, die Hütte bietet genug Platz für zwei.“
Svea zögerte mit einer Antwort. Sie wusste nicht, was sie von diesem Vorschlag halten sollte. Sie hatte noch nie eine Nacht außerhalb ihres Elternhauses verbracht und konnte es sich auch nicht vorstellen, für längere Zeit fern zu bleiben. Doch ebenso wenig konnte sie sich vorstellen, einfach nach Hause zurückzukehren, schon gar nicht heute Nacht. Zudem war das Tor der Stadt zu so später Stunde fest verschlossen und würde niemandem mehr Einlass gewähren.
Nach reiflicher Überlegung nickte Svea zustimmend und Alveradis lächelte beruhigt. Sie versuchte, das Mädchen auf andere Gedanken zu bringen: „Was hältst du davon, wenn wir uns zuerst um dein Lager kümmern? Du kannst dich gerne neben mich betten.“
Die beiden begannen, die wenigen Möbel im Haus zur Seite zu rücken und schufen ein Nachtlager für Svea. Auf diese Weise beschäftigt, vergaß das Mädchen seinen Kummer. Erst, als Svea ruhig neben Alveradis lag und vom lauten Prasseln des Regens am Einschlafen gehindert wurde, begann sie wieder über den Hass ihres Vaters nachzudenken. Ihre Traurigkeit wurde plötzlich so groß, dass sie erneut zu weinen begann, ganz leise und von der alten Frau abgewandt.
Alveradis hatte sich Svea allerdings nicht grundlos zur Gehilfin erwählt. Sie verstand das Kind wie eine eigene Tochter und bemerkte auch den Kummer des Mädchens. Vorsichtig legte