König Otto erhob sich und kam langsam auf die Männer vor der breiten Treppe zu, blieb jedoch auf dem Podest stehen und schaute auf sie herab. „Es scheint mir, als habe ich diesen Vortrag schon einmal gehört, allerdings mit umgekehrten Positionen und Ansichten. Rurik hat sein Anliegen bereits vorgetragen. Doch da ich Euch schon vorher eine Audienz gewährt hatte, wollte ich beiden Parteien die Gelegenheit geben, sich als die mit dem berechtigten Anspruch hervorzuheben. Sprecht frei, wie es Euch beliebt, solange es diese Belange betrifft.“
Rurik ergriff mit bedrohlich polternder Stimme das Wort. „Beweist, dass der Junge noch am Leben ist, sofern Ihr es könnt, Gerold.“
„Beweist Ihr doch, dass er tot ist.“
„Ich danke Euch, dass Ihr danach fragt“, entgegnete Rurik.
Er machte eine Handbewegung, woraufhin ein Mann die Halle verließ. „Diesen Beweis erbringe ich nur allzu gerne.“
Es dauerte nicht lange und der zuvor entschwundene Mann kehrte mit vier weiteren zurück. In ihrer Mitte trugen sie eine Art großen, ledernen Sack, den sie vor dem Podest niederlegten. „Hierin befindet sich der Leichnam des Jungen, den Ihr zu finden hofft. Er bietet keinen schönen Anblick, doch der Tod hat nun mal kein liebreizendes Gesicht.“
Rurik öffnete den Sack eigenhändig, indem er das Leder auf beiden Seiten zurückschlug. Ein unbeschreiblicher Gestank entstieg der Hülle und Fliegen erhoben sich, als der Sachwalter den bis zur Unkenntlichkeit entstellten Leichnam eines Knaben präsentierte. Brandolf drohte, sich an Ort und Stelle zu übergeben, so unbeschreiblich war dieser Anblick. Er hatte schon viel Leid und den Tod auf Schlachtfeldern gesehen, doch die sterblichen Überreste dieses Kindes waren etwas anderes. Den meisten im Saal schien es ähnlich zu ergehen. Ihre anfängliche Neugier verflog und die Männer wandten ihre Blicke zur Seite. Hände wurden vor Nase und Mund gehalten.
König Otto hingegen blieb ungerührt und betrachtete den geschundenen Körper. Es sah aus, als sei der Knabe von einem Pferd überrannt worden. Der Schädel war zermalmt, das Gesicht unkenntlich und die Gliedmaßen mehrfach gebrochen und gequetscht. Die Augenhöhlen waren leer, als hätten sich Krähen bereits an ihrem Inhalt gelabt. Maden krochen über das verwesende Fleisch, versahen den toten Leib auf abstoßende Weise mit neuem Leben.
Nach langem Schweigen ergriff der Herrscher schließlich das Wort. „Rurik, lasst den Leichnam fortschaffen und verhelft ihm zu einem ordentlichen, christlichen Begräbnis.“
Der Sachwalter wies seine Männer an, den Leichnam aus der Halle zu tragen und Brandolf schien es, als würde sich ein dunkler Schatten hinwegheben.
Gerold nutzte die Gelegenheit und stellte sogleich die Identität der Leiche in Frage: „Dieser Leichnam ist kein Beweis, Rurik! Der Knabe war nicht zu erkennen. Wer kann uns mit Sicherheit sagen, dass dies tatsächlich Rogars Leichnam war? Sollen der König und ich uns einzig auf Eure ehrbare Aussage verlassen?“
Rurik wurde sichtlich wütend über diese Zweifel, er beherrschte sich jedoch und antwortete verhalten: „Wollt Ihr damit etwa andeuten, ich würde den König und Euch absichtlich täuschen? Man hat mir beteuert, dass dies der Leichnam Rogars sei!“
„Von Absicht war keine Rede“, versuchte der Herrscher die hitzigen Gemüter zu beruhigen. „Doch ich muss dem Edelherr Gerold zustimmen: Der Leichnam könnte der eines jeden Knaben sein. Habt Ihr denn keinen anderen Beweis? Es heißt, dass Farolds Siegelring ebenfalls verschwunden sei. Möglicherweise trug Rogar ihn bei sich. Könnt Ihr ihn vorweisen, Rurik?“
Natürlich konnte Rurik das nicht. Er versuchte seinen Anspruch auf den Titel anders zu rechtfertigen: „Ist es denn nicht genug, dass durch diesen Überfall in jener Nacht das Gefüge der Grafschaft zerstört wurde? Wäre ich nicht sofort bereit gewesen, die Verwaltung zu übernehmen, wären die Erträge des vergangenen Jahres deutlich geringer ausgefallen. Ich war in jener Nacht zugegen, um die Burg zu befreien. Daher beanspruche ich den Titel des Grafen, statt nur den Sitz auf der Greifburg für einen toten Jungen frei zu halten, mochte er den Siegelring bei sich getragen haben oder nicht.“
Als Rurik schwieg, sah Brandolf eine Gelegenheit, seine Sicht der Geschehnisse zu schildern. Er sprach besonnen und seine Stimme war nicht laut. Dennoch war sie selbst in den entlegenen Winkeln der Halle zu vernehmen. „Rurik, Ihr wart nicht der einzige Krieger in dieser fürchterlichen Nacht.“ Der König wandte sich nach diesem knappen Satz Gerolds Sohn zu: „Ich habe von Eurer Tat gehört, junger Brandolf. Ihr sollt ehrenhaft gekämpft und damit Euren Beitrag zur Befreiung der Burg geleistet haben. Was wisst Ihr über diese Nacht zu berichten?“
Brandolf war auf die Worte des Königs gefasst gewesen. Sein Vater hatte ihn beinahe jeden Tag darauf vorbereitet. Es fiel ihm überraschend leicht, dem Herrscher Rede und Antwort zu stehen. Die Herausforderung lag vielmehr in Rurik, der ein falsches Spiel mit ihnen und dem König trieb. Mit einem Mal wurde dem jungen Krieger bewusst, wen er sich mit seiner Aussage zum Feind machen würde. Dennoch musste er sprechen, denn er hatte dem Grafen Farold einen Eid geleistet, dem er gerecht werden wollte.
Brandolf berichtete dem König: Er schilderte den Überfall und seine Eindrücke, beschrieb Sigruns und Farolds Tod und deren Umstände. All das hatte Rurik schon einmal vernommen und es schien ihn zu langweilen. Doch dann berichtete Brandolf, wie er den jungen Rogar in dieser Nacht aus dem Tor hatte reiten sehen, nachdem ihm seine Mutter zur Flucht verholfen und sich für ihn geopfert hatte. Er war sich sicher, dass Rogar in dieser Nacht nicht ums Leben gekommen war. Als Rurik das vernahm, weiteten sich seine Augen zusehends. Sein Kopf wurde hochrot und es kostete ihn all seine Kraft, sich vor dem König zu beherrschen.
Nachdem Brandolf seinen Bericht beendet hatte, richtete der Herrscher sein Wort an den Sachwalter. „Brandolf behauptet also gesehen zu haben, wie der Knabe auf dem Pferd seiner Mutter den Barbaren entkommen ist, Rurik. Könnte es sich so zugetragen haben oder wurde das Ross der Gräfin in den Stallungen vorgefunden? Euren Registern nach zu urteilen ist keines der Rösser in jener Nacht zu Schaden gekommen.“
Mit Mühe versuchte Rurik im Zorn seine Stimme gedämpft zu halten. „Nein, mein König, wir haben es nicht vorgefunden.“
König Otto fuhr fort: „Tot offensichtlich auch nicht. Scheinbar führt Ihr Eure Register lückenhaft, Rurik! Das fehlende Pferd wäre zumindest ein klares Indiz dafür, dass der Junge entkommen sein könnte und durch die Lande irrt. Wie seht Ihr das, Rurik?“
„Das ist durchaus möglich, mein Herr“, antwortete der Sachwalter gesenkten Hauptes und mit leiser Stimme. „Doch es ist genauso möglich, dass er in den Wäldern zu Tode gekommen ist. Heute wurde Euch der Leichnam eines Knaben im besten Glauben vorgelegt, es handele sich dabei um den gesuchten Rogar.“
Nachdenklich machte der Herrscher ein paar Schritte auf seinen prunkvollen Sitz zu, wandte sich dann aber wieder an die drei Männer.
„Mir wurden heute zwei Möglichkeiten über Rogars Schicksal vorgetragen. Tatsächlich könnten beide die Wahrheit enthalten, doch es ist schwer zu sagen, welche Geschichte die zutreffende ist. Was ist zu tun? Gerold, Ihr habt Unterstützer Eures Antrages erwähnt. Würden sie in Eurem Sinne sprechen, notfalls die vermeintliche Wahrheit mit dem Schwert und in Gottes Namen verteidigen?“
„Ich bin mir sicher, dass sie es tun würden, Herr“, antwortete der Angesprochene ohne zu zögern.
„So lasst sie hervortreten und selbst sprechen.“
Der Edelherr wandte sich um und rief sie: Friedrich, Egbert, Markolf, Asmund und noch einige