In respektvollem Abstand blieben die Männer stehen und warteten auf ein Wort ihres Königs, der sie sogleich ansprach: „Wie ich sehe, hat der Edelherr Gerold einige von Graf Farolds ehemaligen Kameraden vereint. Ich erkenne manches Gesicht wieder. Ihr alle habt in der Schlacht gegen die ungarische Horde ehrenvoll gekämpft. Zusammen waren wir siegreich und der Ruhm gebührt auch Euch. Daher sei Euch gestattet, in diesem Disput das Wort zu ergreifen.“ Er sah Friedrich als den Wortführer an. „Wie lautet Euer Name, Ritter?“
„Friedrich, mein Herr.“
„Friedrich, verhält es sich so, wie Brandolf, der Sohn des Edelherrn Gerold, es geschildert hat? Seid Ihr der gleichen Überzeugung und wähnt Rogar noch am Leben?“
Es schien dem Krieger schwer zu fallen, dem König in die Augen zu blicken und frei zu sprechen. Er scharrte aufgeregt mit den Füßen und sah immer wieder zu Boden. In diesem Augenblick begann Brandolf zu ahnen, dass etwas nicht stimmte. Er schaute zu Rurik und bemerkte dessen zufriedenes Lächeln. Da begriff Brandolf, weshalb sich Friedrich bei ihrem letzten Treffen so merkwürdig benommen hatte. Seine Worte, die er jetzt sprach, bekräftigten diese Vermutung:
„Mein Herr, verzeiht mir, doch ich kann dem Edelherrn keine Unterstützung zusagen.“
Entsetzt starrte Gerold seinen Freund mit offenem Mund an.
„Friedrich, was ist …?“
Der König unterbrach Gerold und wollte Gewissheit: „Friedrich, könnt Ihr Eure Aussage wiederholen?“
„Ja, mein Herr. Ich kann dem Edelherrn Gerold in seinem Anliegen, Rogar zur Grafschaft zu verhelfen, keine Unterstützung mehr zusagen. Ich spreche nicht nur für mich, sondern für alle, die sich in dieser Sache Herrn Gerold vor etwa einem Jahr verschrieben hatten. Nur der Allmächtige weiß, wie es um Rogar steht. Ich kann ein solch zweifelhaftes Gesuch nicht mit reinem Gewissen und nicht im Namen des Herrn unterstützen. Sollte Rogar noch am Leben sein, so wird der Schöpfer schon für ihn sorgen. Das ist unsere Anschauung.“
Für einen Augenblick hob sich Friedrichs Blick und wechselte von Gerold zu Brandolf. Es schien, als bitte er beide um Verzeihung, doch nichts konnte diesen Verrat entschuldigen. König Otto verstand ebenso schnell wie Brandolf. „Ist das Euer letztes Wort?“
„Ja, mein Herr.“
„So verlasst meine Halle …“, befahl der König und blickte streng zu Rurik, „… bevor Euch noch etwas anderes einfällt, was Ihr bekunden wollt.“
Die kleine Schar um Friedrich zog sich beschämt zurück und verließ die hohe Halle. Alle Blicke folgten dem Auszug, einzig Rurik beachtete ihn kaum. Der schien von dem Sinneswandel der einstigen Verbündeten wenig überrascht zu sein. Der Herrscher widmete sich sogleich dem Sachwalter der strittigen Grafschaft. „Habt Ihr ebenfalls irgendwelche Fürsprecher vorzuweisen, Rurik?“
„Nein, mein König. Mein bisheriges Handeln und die Zusicherung der absoluten Treue meinem Gebieter gegenüber sollten Fürsprache genug sein.“
König Otto nahm diese Worte mit einem Nicken zur Kenntnis. Er überlegte noch einen kurzen Augenblick, dann verkündete er seinen Beschluss: „Es ist keinesfalls einfach, in diesem Fall die richtige Entscheidung zu treffen. Daher werdeich nach den Bedürfnissen des Reiches urteilen und verfüge, dass Rurik bis auf weiteres Sachwalter der Grafschaft bleibt. Zu ungewiss ist das Schicksal des Knaben Rogar und die Grafschaft darf nicht in dieser Ungewissheit belassen werden. Sie benötigt einen Führer, der als getreuer Kronvasall seinem König dient. Daher verfüge ich weiter, dass der Herr Rurik die Grafschaft endgültig erhält, sollte der Knabe Rogar nicht binnen Jahr und Tag gefunden werden. Wird er jedoch bis dahin gefunden, so soll Rurik Verweser der Ländereien bleiben, bis Rogar die Schwertleite erhält. Dies ist meine Entscheidung!“
Für den Herrscher war der Streitfall abgehandelt. Er wandte sich von den drei Männern am Fuße der Treppe ab, womit sie entlassen waren. Rurik, der nach Friedrichs Verrat geglaubt hatte, den Sieg in Händen zu halten, sah sich mit einem Schlag seines Triumphes beraubt. Die anfängliche Zufriedenheit war aus seinem Gesicht gewichen. Es hatte sich für ihn nichts geändert. Gerold war zwar mit seinem Anliegen gescheitert, doch er selbst ebenso. Frühestens in einem Jahr und einem Tag würde der König ihm den Grafentitel verleihen, sollte sich bis dahin nichts anderes ergeben. Doch das war bei weitem noch nicht sicher, so erpicht wie Gerold darauf war, Rurik zu Fall zu bringen.
Wenn sich etwas geändert hatte, dann für Brandolf. Dem war klar geworden, dass er von nun an noch stärker unter Ruriks Beobachtung stehen würde. Sein Vater und er durften sich in Zukunft keine Fehler erlauben, sonst wären sie ihres Lebens nicht mehr sicher. Misstrauisch blickte er Rurik in die Augen und sah darin nur Hass und Verachtung.
Erneut beschloss Brandolf alles Erdenkliche zu unternehmen, um Rogar zu finden. Rurik durfte unter keinen Umständen Herr der Ländereien und sein Dienstherr werden. Die Zeit, die ihm dafür blieb, war jedoch knapp bemessen. Er hatte im vergangenen Jahr nichts erreichen können, wie sollte er es im verbleibenden bewerkstelligen, den Jungen zu finden?
Brandolf verließ mit seinem Vater die Halle. Im Säulengang des Quartiergebäudes stießen sie auf Friedrich, der dort auf sie wartete. Gerold sah ihn kurz mit strafendem Blick an, wandte sich wieder ab und ließ den Verräter stehen. Der folgte ihm und versuchte seinen Sinneswandel zu erklären.
„Gerold, versteh doch … Rurik bedroht Mildrith und die Kinder … ich hatte keine Wahl!“
„Dann gehe und sorge dich um sie, doch trete mir nicht mehr unter die Augen!“
Mit diesen Worten betrat Gerold seine Räumlichkeiten und ließ den einstigen Freund vor verschlossener Tür stehen.
Brandolf konnte die tiefe Enttäuschung seines Vaters erkennen. Die hängenden Schultern des Edelherrn und die Hoffnungslosigkeit in seinem Gesicht sprachen Bände.
Ohne zu zögern begann Gerold die Abreise vorzubereiten. Wenn möglich, wollte er noch heute die Pfalz verlassen. Allein um Rurik zu entkommen, der sicherlich auf Rache sann, war es nötig, einen großen Vorsprung zu haben. Nur kurze Zeit später wurden die Pferde von Stallburschen auf den Hof geführt, gesattelt und waren zum Aufbruch bereit. Gerolds Männer befestigten noch die letzten Habseligkeiten auf dem Lasttier und wollten gerade aufsitzen, als ein Bote des Königs auf Gerold zukam. Er flüsterte dem Edelherrn etwas ins Ohr und schritt wieder davon. Einen Augenblick hielt Gerold nachdenklich inne, dann gab er Brandolf ein Zeichen: „Komm mit mir.“
Verwundert ließ der Sohn sein Pferd stehen und folgte dem Vater über den Innenhof und am Brunnen vorbei bis zur alten Kapelle der Pfalz. Dort verließen sie den großen Hof durch eine Tür in einer mannshohen Mauer, die einen zweiten, kleineren Innenhof abtrennte.
Als Brandolf durch den Türbogen trat, schien es ihm, als betrete er eine andere Welt. Während der erste Hof nur eine große, staubige Kiesfläche war, stand er jetzt unter den großen Bäumen eines Haines. In der Mitte des Hains weitete sich der Weg, auf dem sie voranschritten, zu einem rechteckigen Platz. In dessen Mitte sprudelte aus einem Quellstein klares Wasser, das sich in ein flaches, mit Mosaiksteinen verziertes Becken im Erdreich ergoss.
Dieser Innenhof wurde von mehreren Bauten eingerahmt. Im Osten wurde er durch den weitläufigen, sichelförmigen Bau gefasst, den Brandolf bereits bei seiner Ankunft vor einigen Tagen aus der Ferne hatte erkennen können. Zum Hof hin war diesem Gebäude ein überdachter Säulengang vorgelagert, auf den Gerold zustrebte. In seinem Schatten angelangt, bemerkte Brandolf mehrere Männer. Instinktiv glitt seine Schwerthand zum Knauf seiner Waffe, als er mit Erstaunen erkannte, dass einer der Männer König Otto selbst war.
Der Edelherr und sein Sohn blieben stehen und warteten geduldig, bis sich der König