Svea bezweifelte allerdings, dass ihr Vater bei seinen Geschäften schlecht davonkam. Sie hatte schon einmal heimlich beobachtet, dass Ulf ein paar Münzen in einem Säckchen bei sich trug, sorgfältig in ein Tuch gewickelt, damit sie beim Gehen nicht klimperten. Svea wusste nicht, was er damit vorhatte. Sie vermutete aber, dass er sie für diese Gertha benötigte, die er umwarb. Wenn auch nicht reich, so war er doch immerhin ein freier Bauer, der sich mit Fug und Recht nach dem Tode seiner Gemahlin ein zweites Eheweib nehmen durfte. Gertha schien auf seine Bemühungen anzusprechen. Das war der Grund, weshalb sie und Ulf seit dem letzten Pfingstfest immer wieder miteinander gesehen worden waren.
Gertha war, wenn auch keine hübsche, zumindest eine junge Frau und Ulf schien sie sehr zu begehren. Svea mochte sie nicht, denn in ihr sah sie einen der Gründe, weshalb sie meist hungrig zu Bett gehen musste. Würde ihr Vater sich mehr um seine Kinder kümmern statt um diese Frau, die ihm noch weitere gebären würde, so könnte es ihnen allen besser gehen. Zumindest glaubte Svea das.
Seit Georg den kleinen Hof verlassen hatte, um mit Elisabeth seine eigene Familie zu gründen, hatte sich viel geändert. Eigentlich hegte Svea keinen Groll gegen das Weib ihres Bruders. Doch allein die Tatsache, dass sie ihr Georg weggenommen hatte, war Grund genug sie nicht zu mögen. Obwohl Elisabeth immer freundlich zu ihr war, besuchte Svea ihren Bruder nur, wenn sie nicht anwesend war. Nur dann, so glaubte sie, würde Georg sich ihr voll und ganz widmen, so wie er es früher immer getan hatte.
Georg war es auch, der Svea am häufigsten von ihrer Mutter erzählte. An Freya konnte sie sich natürlich nicht erinnern. Aber Georg hatte schon oft von ihrer Geburt berichtet: wie schwer sie war und dass ihre Mutter kurz darauf gestorben war. Sie hatten für Svea im Dorf eine Amme gefunden, und eine wilde Frau aus den Wäldern war oft bei ihnen gewesen. Diese Wilde kümmerte sich um Svea, bis in ihren zweiten Sommer hinein. Das Mädchen hatte allerdings keine Erinnerungen mehr an diese Frau, deren Name auszusprechen Ulf verboten hatte.
In Sveas Erinnerung waren es vor allem ihre drei Brüder, Georg, Thorben und Brun, die sie umsorgt hatten. Weil die beiden älteren sich mehr um den Hof und die Felder kümmern mussten, hatte Brun oft mit ihr gespielt, sobald es seine Pflichten auf dem Hof erlaubten.
Georg hatte sie eher wie eine Tochter behandelt. Wenn Svea ihn jetzt in seinem kleinen Häuschen besuchte und ihn mit seinen eigenen Kindern sah, dachte sie oft an die Zeit, als sie noch auf seinem Schoß sitzen durfte. Manchmal nahm er sie auch heute noch auf den Arm und warf sie in die Luft, obwohl sie inzwischen bereits sieben Jahre zählte. Für solche Albereien seien kein Platz mehr, schimpfte ihr Vater stets, wenn er es sah. Das hielt Georg aber nicht davon ab, es dennoch zu tun und bevor er Svea nach Hause schickte, steckte er ihr meist noch einen Kanten Brot zu, den sie heimlich aufaß, bevor Ulf es ihr wegnehmen konnte.
Ihr Vater gönnte ihr nichts. Zwar gab er Svea zu essen, doch nie soviel, dass es sie sättigte. Sie arbeite nicht hart genug auf dem Hof, meinte er immer, da bräuchte sie auch nicht so viel zu essen wie seine Söhne. Die wurden zwar auch nicht satt, bekamen aber hin und wieder ein Lob, wenn sie ihre Arbeit nach Ulfs Vorstellungen verrichteten.
Immer wieder fragte sich Svea, weshalb ihr Vater sie mit Missachtung strafte. Eines Tages kam sie zu dem Schluss, dass er sie für den Tod seines Weibes verantwortlich machte. Er hatte es zwar nie ausgesprochen, doch an der Art und Weise, wie er Svea manchmal anschaute, spürte sie, was er über sie dachte: Sie war eine Last auf dem Hof. Ein weiteres Maul zu stopfen, das bei der Arbeit nicht helfen konnte. Sein Weib hatte wenigstens noch bei der Feldarbeit mit angepackt, doch Svea war nicht einmal in der Lage gewesen, die Schweine in den Wald zu treiben. Ihre Beine seien zu kurz und zu langsam, neckte Brun sie immer.
Bisher! Denn seit diesem Sommer hatte sich Ulf auf Georgs Anraten dazu durchgerungen, Svea endlich die beiden Schweine anzuvertrauen. Wenn auch widerwillig. Unter Androhung von Hieben, sollte sie die Schweine im Wald verlieren, überließ er ihr schließlich die Rute. Brun, der das Privileg der Mast bisher innehatte, brachte ihr dann alles bei, was man als Schweinehirt wissen musste. Svea begriff schnell und so fühlte sie sich schon nach kurzer Zeit in der Lage, die beiden Tiere allein in den Wald zu treiben.
Inzwischen war sie mit dieser Aufgabe so vertraut, dass sie keine Angst mehr hatte, die Sauen könnten ihr durchgehen. Sie hatte die Schweine nämlich gehorsam gemacht: mit Leckerbissen. Die hielt sie in ihrem eingeschlagenen Ärmelsaum bereit, um die Tiere bei sich zu halten. Mit der Zeit wussten sie genau, dass sie von ihrer Hirtin immer eine kleine Abwechslung zu den Eicheln erwarten konnten.
Svea liebte es, den Wald zu erkunden. Seit sie das Borstenvieh beaufsichtigen durfte, hatte sie dazu viel Zeit. Immer wieder entdeckte sie Neues: merkwürdige Felsen, Lichtungen mit schönen Blumen oder verborgene Bachläufe. Einmal hatte sie einen kleinen Weiher entdeckt, der direkt bei einer Quelle mitten im Wald lag. Niemand schien ihn zu kennen, denn sooft sie ihn auch aufsuchte, nie war ihr dort eine Menschenseele begegnet.
Heute streifte Svea wieder durch einen unbekannten Teil des Waldes. Hier gab es mächtige, alte Eichen, und die Schweine mussten nicht lange suchen, um sich sattfressen zu können. Während sie mit ihren Schnauzen den Waldboden durchwühlten, hielt Svea ihren Blick in die Baumkronen gerichtet. Unterholz war kaum vorhanden und die Strahlen der Sonne drangen spielerisch durch das Blattwerk.
In Gedanken versunken, folgte sie den Schweinen, bis sie plötzlich auf ein Dickicht stieß. Es war wie eine Barriere und Svea wunderte sich über das abrupte Auftauchen im sonst so lichten Wald. Sie wollte es umgehen, doch das Strauchwerk wollte nicht enden. Es schien, als umschließe es einen Ort.
Svea wurde neugierig. Sie forschte genauer und fand an einer Stelle schließlich den Anfang eines schmalen Pfades, der sich wie eine Passage durch die hohen Büsche und an den jungen Bäumen des Dickichts vorbei wand. Aufgeregt trieb sie die Schweine dorthin, um das Geheimnis des Dickichts zu erkunden. Ihr Herz pochte schnell. Sie wusste nicht, was sie jenseits erwartete, und hoffte, die Tiere würden sie mit ihrem Quicken vor einer unangenehmen Überraschung warnen.
Es dauerte nicht lange und Svea trat aus dem Gestrüpp. Grelles Sonnenlicht blendete sie. Blinzelnd schaute sie sich kurz um. Sie befand sich am Rande einer Lichtung, auf der sie eine kleine, windschiefe Hütte neben zwei alten Eibenbäumen erblickte. Svea wagte sich zaghaft ein paar Schritte weiter. Neben dem kleinen Häuschen befand sich ein Kräutergarten, der gut gepflegt aussah. Sofort war ihr klar, dass hier jemand lebte. Sie fragte sich, ob der Bewohner im Augenblick in der Hütte wäre. Aber niemand war zu sehen oder zu hören. Vorsichtig ging Svea weiter. An einer Stelle der Lichtung entdeckte sie ein paar mächtige, schwarze Felsblöcke, die merkwürdig aussahen. Ihrem ersten Impuls, zu ihnen zu gehen, gab sie jedoch nicht nach. Ein Instinkt warnte sie davor, und sie hielt sich von ihnen fern.
Gerade als sie wieder nach ihren Schweinen schauen wollte, um sie von dem gepflegten Garten fernzuhalten, öffnete sich die Tür der Hütte. Svea erstarrte. Wer auch immer aus dem Haus treten mochte, sie war bereit, mit einem Spurt durch das Dickicht zu fliehen, auch wenn sie dafür die Schweine zurücklassen musste.
Als Svea eine alte Frau aus der Hütte treten sah, verwarf sie diesen Gedanken jedoch wieder. Die Alte lächelte, als sie Svea erblickte. Sie kam auf das Mädchen zu und sprach es mit freundlicher Stimme an:
„Willkommen auf meiner Lichtung. Wer bist du?“
„Svea“, antwortete das Mädchen schüchtern.
„Ich bin Alveradis. Was führt dich zu mir, Svea?“
„Ich … ähm, die Schweine … also, sie sind … ähm … sie sind mir durchgegangen, ja, und ich … ähm … ich wollte sie wieder einfangen. Wenn ich sie nicht nach Hause bringe, bekomme ich nämlich Schläge. Ich bin ihnen nachgelaufen und … sie haben mich auf diese Lichtung geführt.“
Die Frau lächelte nun auf eine Art, als könne sie hinter die Worte des Mädchens blicken. Svea wurde unsicher. Die Augen der Alten schienen sie zu durchdringen. Aber ihre Worte beruhigten sie.
„Ich freue