Wenn ich nicht gehorsam bin,
wird mir der Schädel zertrümmert!“
Heute lachen die Kinder darüber, wenn sie das Lied hören, das in ihren Ohren sarkastisch, hohl und intelligenzbeleidigend klingt. Doch mir ist es unmöglich, ihnen meine damalige Ohnmacht und Angst zu vermitteln. Niemand ahnte 1970, dass die öffentliche Hinrichtung von Yu Luoke vor 100 000 Menschen im Sportstadium der Arbeiter in Peking noch längst nicht der Höhepunkt des kommunistischen Klassenwahns sein sollte. In den ersten dreißig Jahren des kommunistischen Regimes in China wurden nach unvollständiger Berechnung mindestens 29 Millionen Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zur schwarzen Klasse getötet. Wie viele Menschen insgesamt der blutigen Diktatur des großen Führers Mao zum Opfer fielen, geht aus Zahlen hervor, die – von der KPCh selbst bestätigt – folgendermaßen aussehen:
987 000 Menschen wurden 1950/51 in der „Nieder-mitden-Konterrevolutionären“-Kampagne getötet;
75 000 wurden 1955/56 hingerichtet;
2,6 Millionen Rechtsabweichler und deren Familienangehörige wurden 1956/57von ihren Wohnorten und Arbeitsplätzen entfernt und größtenteils durch Sklavenarbeit eliminiert;
41,36 Millionen Menschen sind in den Jahren 1958 bis 1962 verhungert;
29,53 Millionen „schwarze Elemente“ konterrevolutionärer Herkunft starben zwischen 1962 und 1966 eines unnatürlichen Todes;
712 000 „Übeltäter“ fielen zwischen 1966 und 1976 einer Säuberung zum Opfer.
Insgesamt ließ der „große Führer“ also mindestens 75 Millionen unschuldige Menschen ermorden. Zusätzlich wurden unzählige Familien auseinandergerissen und deren Mitglieder brutal verfolgt und misshandelt. Dieser grausame Teil der Geschichte Chinas wird von den politischen Machthabern in Peking bis heute unter den Teppich gekehrt.
Die „Fünf schwarzen Klassen“ bildeten also das Freiwild unter der proletarischen Diktatur. Jeder durfte sie bestrafen, wie und wann er wollte. Zu den Strafen gehörten vor allem Verfemung, öffentliche Diffamierung und Selbst- bzw. Lynchjustiz. Denn eine Justiz im Sinne einer veritablen Rechtspflege gab es in den ersten dreißig der kommunistischen Herrschaft nicht. Es gab auch keine regulären Gefängnisse, wie man sie aus Rechtsstaaten kennt, sondern vielmehr Arbeitslager, die organisiert waren wie die Konzentrationslager der Nazis. Es war keine Straftat und wurde auch nicht politisch hinterfragt, wenn ein Roter einen Schwarzen im Affekt umbrachte oder durch Misshandlung tötete. Täglich sahen wir, wie Menschen auf der Straße zu irgendeiner Volksversammlung getrieben wurden. Als Sündenböcke und Prügelknaben dienten sie der Volksbelustigung. Sie mussten sich einen langen Papierhut aufsetzen und eine Holztafel mit ihrem Namen tragen, der rot durchgestrichen war. Die Streichung des eigenen Namens bedeutete: Freiwild. Derart gezeichnet mussten sie in gebückter Haltung durch eine von der Menschenmenge gebildete Gasse laufen, wobei sie beschimpft, geschubst, geschlagen und bespuckt wurden.
Dass ich dank des vehementen Einsatzes meines Vaters die „richtige“ Klassenzugehörigkeit erhielt und so gerettet wurde, dafür bin ich bis heute zutiefst dankbar. Mein Vater stammte zwar aus einer Buchhändlerfamilie, die nach der Klassentheorie der Kommunisten nicht zu den Roten gehörte, hatte aber sein Studium der Volkswirtschaftslehre im schon kommunistischen China abgeschlossen und nach dem Studium als Kader in der Provinzregierung Qinghai gearbeitet. Deswegen gehörte er nicht zur schwarzen Klasse. Das war insofern ein Glücksfall, als Menschen, die fünf Jahre vor meinem Vater noch zur republikanischen Zeit studiert hatten, vom Vorsitzenden Mao höchstpersönlich pauschal als kapitalistische Intellektuelle abgestempelt und zur Umerziehung durch Zwangsarbeit verurteilt wurden.
Großvater Chen Lechuan
Mein Großvater väterlicherseits, Chen Lechuan, wurde 1891 in Xuzhou geboren, in einer Zeit des Umbruchs und der Kriegswirren. Der junge Kaiser Guangxu wollte das Land, das wegen seines trägen Verwaltungssystems im Vergleich zu anderen Ländern ins Hintertreffen geraten war, nach westlichem Vorbild reformieren. Per Dekret setzte er eine von Kang Youweix und Liang Qichaoxi geleitete Reform durch, die leider nur von kurzer Dauer war. Weil die Reform nicht nur das Bildungswesen, die Militärausbildung und das Prüfungssystem, sondern auch den Abbau der Bürokratie beinhaltete, wollten die Mandarine diese nicht mittragen. Die Kaiserinwitwe Cixi, die unter dem Einfluss der konservativen Kreise der Bürokraten und Mandarine stand, ließ daher den Kaiser Guangxu internieren, seine Anhänger verhaften und regierte das Land mit der Unterstützung des Militärs. Mein Großvater war also ein Überlebender der letzten Qing-Dynastie unter der Regentschaft der Kaiserinwitwe Cixi und der ihr folgenden schrecklichen Zeit des Bürgerkrieges unter den Landlords.
Moderne Schulen nach westlichem Vorbild hatte mein Großvater nicht besucht. Sein Vater hatte ihn in eine private Einklassenschule mit nur einem einzigen Lehrmeister geschickt, wo traditionell nur die chinesischen Klassiker gelehrt wurden. Seine Bildung war deshalb auf diese Klassiker beschränkt. Nachdem er die kanonisierten „Vier Bücher“xii und „Fünf Klassiker“xiii auswendig gelernt hatte, galt er als absolviert und ging anschließend zu einem Buchhändler in die Lehre, der auch mit südländischen Waren handelte. Er selbst hat mir nie erzählt, was man als Lehrling in einer Buchhandlung lernte. Aber wie ich von meiner Großmutter erfuhr, verbrachte mein Großvater die ersten Lehrjahre als billiger Hausdiener, der täglich dem Lehrmeister und dessen Familie die Nachttöpfe entleerte und reinigte, den Hof und den Laden putzte und die Kinder des Lehrmeisters hütete. Erst nach dem Bestehen dieser Knechtschaftsprüfung war der Lehrmeister gewillt, dem Lehrling etwas Handwerkliches wie das Rechnen mit dem Abakus sowie das Sortieren und Bestellen von Büchern beizubringen. Der Buchhandel erforderte damals ein umfangreiches Wissen, das man sich ohne Anleitung nicht aneignen konnte. Denn das Wissen über Bücher wurde seit eh und je mündlich weitergegeben, zumal dieses Wissen über Publikationen von einem Zeitraum von ungefähr 2000 Jahren echte Geheimtipps beinhaltete. Als Buchhändler musste man nicht nur die Klassiker, sondern auch all die Interpretationen aus verschiedenen Dynastien auswendig lernen. Als die Revolution 1911 das Kaiserreich beerdigte und den Konfuzianismus zum „Gegenstand der Zerstörung“ deklariert hatte, wurde das Wissen über die alten Bücher auf einmal überflüssig. Denn die Revolution verlangte neue wissenschaftliche Bücher aus dem Westen. So wurde Konfuzius und dessen Lehre durch Adam Smith, Charles Darwin und Karl Marx ersetzt. Mein Großvater machte sich irgendwann selbstständig und gründete seine eigene Buchhandlung. Seine schnelle Reaktion auf diese neuen Zeiten machte ihn nicht nur zu einem modernen Buchhändler, sondern auch zum wohlhabendsten Mann des Westends von Xuzhou.
Er handelte allerdings nicht nur mit modernen Büchern, sondern hatte auch viele Raritäten und Einzelausgaben gesammelt. Wie sehr es ihn geschmerzt haben muss, als Maos Revolutionäre während der politischen Kampagne der Vermögenskonfiszierung den Hof und seine Wohnung durchsuchten und sechs Lastwagen voller Bücher in Wert von Millionen Yuan stahlen – darunter auch sehr seltene Bambus-Lamellen-Ausgaben der Lunyuxiv und Zhanguocexv – , hat er nie artikuliert. Ich erinnere mich nur noch daran, wie er, solange er lebte, stundenlang einige zerfetzte, mit Fäden geheftete Bücher anstarrte, die immer auf dem Bett neben seinem Kopfkissen lagen. Oft hörte ich ihn sagen, dass er die Bücher dem Museum hätte spenden sollen.
Mein Großvater war ein Mann der alten Schule. Er konnte zu jeder Gelegenheit einen oder mehrere passende Verse aus den fünf Klassikern rezitieren, aber nicht erklären, wie Weitsichtigkeit bei älteren Menschen entsteht und warum eine Brille dann hilfreich ist. Er konnte sich auch nicht erklären, warum Stahl härter und tragfähiger als Holz ist. Ihm genügte die Tatsache, dass Stahl härter ist. Da er nie eine moderne Schule besucht hatte, wusste er von Physik, Chemie und Biologie so gut wie nichts. Dafür brachte er mir bei, nicht nur die Poesie des Buches Shi Jing zu bewundern, sondern es auch immer moralpolitisch zu interpretieren. Die Lyriksammlung von 300 Liedern sei eine Sammlung von wenigen Wörtern, aber von größter Bedeutung, weil sie von der Vergangenheit handelten, aber die Gegenwart parodierten. Es war nicht ungefährlich und auf jeden Fall politisch geradezu selbstmörderisch, Kindern klassisches Chinesisch beizubringen, weil die Kommunisten die alten Kulturen und Sitten verboten hatten. Mein Großvater war aber der Meinung, dass man im Leben