Verschorfungen. Zhaoyang Chen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Zhaoyang Chen
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783347094284
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wenn man nicht zur roten Klasse gehörte. Die Zweiteilung der Menschen in eine Landbevölkerung und in Städter zog eine willkürliche Linie zwischen Armut und Prosperität, sozialem Elend und sozialer Fürsorge. 80 Prozent der Chinesen waren damals in maoistischer Terminologie als „arme Bauern und untere Mittelbauern“ bezeichnete Dörfler, de facto Menschen zweiter und dritter Klasse in ihrem eigenen Land. Jeder meiner Generation, da bin ich mir sicher, wird ein trauriges Lied von dieser Zeit zu singen wissen.

      Ich wurde, Gott sei Dank, in der Stadt geboren. Wie jedes neugeborene Kind musste ich im Hukou eingetragen werden, dem Einwohnerregister der Sicherheitsbehörde. Jede Familie besaß ein Heftchen, das auf Reisen auch als Ausweis diente. Geburtsurkunden wie in Europa gab es nicht. Das Hukou war das wichtigste Dokument, das jede Familie mit sich führte. Es glich einem Meldeschein des Einwohnermeldeamts, hatte aber lebenswichtige Bedeutung. Denn es berechtigte einen zu Bildung, Beruf und Nahrungsmitteln. Ich bescherte meinen Eltern monatlich Bezugsscheine für 5 Kilo Getreide, 5 Eier, 50 Gramm Zucker, 0,2 Liter Speiseöl, 250 Gramm Fleisch und 500 Gramm Fisch sowie allerlei sogenannte Nebenlebensmittel wie Tofu und Nüsse. Obst und Gemüse kaufte man, wenn es überhaupt welches gab, ohne Bezugsscheine. Ein Neugeborenes war allein aus diesem Grund allemal eine Freude für die ganze Familie. So habe ich es also meinem Geburtsort zur verdanken, dass ich das allgemein vorherrschende Gefühl des Hungers, das meine ganze Generation geprägt hat, nicht am eigenen Leib erfahren musste. Üppig waren die Mahlzeiten nie, aber es gab genug, um satt zu werden.

      Mein behördlicher Name lautet Chen Zhaoyang. Er stammt von meinem Vater und bedeutet aufgehende Sonne. Nach dem traditionellen Ahnenkult und dem Willen meines Urgroßvaters hätte ich Chen Yushun heißen müssen, weil „Yu“ als Kennzeichen meiner Generation im Stammbuch unserer Vorfahren festgeschrieben ist und alle meine Cousins und Cousinen „Yu“ als Bindeglied im Namen tragen. So heißen mein Cousin Chen Yulong und meine Cousine Chen Yuqin et cetera. Ganz im Zeichen der politischen Kampagne „Niederreißen der vier Alten“ (Gedanken, Kulturen, Gebräuche, Gewohnheiten) wollte mein Vater die Tradition nicht fortsetzen und gab uns Namen, die die Jugendfrische und Lebenskraft des neuen Staates symbolisieren sollten. So bedeutet der Name meiner Schwester „Knospe in der Morgenstunde“, der Name meines Bruders „gen Himmel strebende Vitalität“. Die Namensgebung reflektierte selbstverständlich das soziale Milieu und den Zeitgeist. Mein Vater wünschte sich, wie alle Eltern seiner Generation, dass wir im neuen China unter der roten Fahne gesund und glücklich aufwachsen würden.

      Die Geburt allein berechtigte einen jedoch noch nicht zum Leben. Auch die Namensgebung allein bescheinigte noch nicht die Existenz eines Neugeborenen. Als Mensch fing man erst an zu existieren, wenn die Klassenzugehörigkeit festgestellt worden war. Die Bestimmung der Klassenzugehörigkeit war in den 1960er-Jahren der Hauptinhalt der kommunistischen Blutlehre. Die perfide Art und Weise der lückenlosen Sortierung der Menschen diente einerseits der Verfolgung von Menschen besitzbürgerlicher Herkunft und der sozialen Ausgrenzung der vormaligen Führungseliten, andererseits der Schaffung und Reglementierung der neuen proletarischen Gesellschaft. Die Frage nach der Klassenzugehörigkeit war die am häufigsten gestellte Frage im Land. Sie wurde gestellt beim Antrag auf einen Kindergartenplatz, bei der Aufnahme in die Schule, bei der Arbeitssuche, bei der Heiratsanbahnung und der Familiengründung. Die Klassenzugehörigkeit entschied auch darüber, ob jemand nach dem Tod ordentlich bestattet wurde. Nachkommen aus den fünf schwarzen Kategorien von Großgrundbesitzern, Großbauern, Konterrevolutionären, Übeltätern und Rechtsabweichlern waren kraft Abstammung Klassenfeinde. Sie waren von Geburt an politisch Verfemte und Objekte des Klassenkampfs. Der deutsche Philosoph Karl Marx hatte um die Mitte des 19. Jahrhunderts den Begriff von der Klassengesellschaft geprägt und betrachtete die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte von fortwährenden Klassenkämpfen. Eine gesellschaftliche Neuordnung, die der kapitalistischen Klassengesellschaft ein Ende bereitete, konnte ihm zufolge nur errichtet werden, wenn das Proletariat alle ausbeuterischen Elemente der früheren Führungseliten systematisch eliminierte. Wer aber waren die neuen Feinde, nachdem die Feinde wie die ehemals regierende Kuomintangix und die imperialistischen Kolonialmächte besiegt und aus dem Land vertrieben worden waren? So kam die Volksregierung nach der Gründung des kommunistischen Chinas 1950 auf die Idee, die Menschen nach Klassenzugehörigkeiten zu separieren und sie dadurch zu Klassenfreunden bzw. -feinden zu machen. Die Menschen wurden daher in fünf Kategorien und 58 Klassen unterteilt. Das war die nötige Voraussetzung für einen Klassenkampf. Bei der behördlichen Anmeldung musste also meine politische Klassenzugehörigkeit festgestellt und in das Formular eingetragen werden. Ein trauriger Akt, der meiner Familie viel Streit und Kummer bescherte. Zwei Jahre zuvor war mein Vater noch „revolutionärer Kader“ gewesen. Daher durfte meine ältere Schwester noch ohne Weiteres als Sprössling eines revolutionären Kaders angemeldet werden. Nach der freiwilligen Kündigung seines Beamtenstatus war mein Vater jetzt allerdings ein Freiberufler, der zu den gesellschaftlichen „Sonderlingen“, wenn nicht „Übeltätern“ gezählt wurde, weil Freiberufler, wie der Name schon sagt, frei von den systemimmanenten Arbeitseinheiten und deshalb frei von jeglicher Kontrolle waren. Unter diesen Umständen hätte ich die Klassenzugehörigkeit meiner Mutter oder meiner Großeltern übernehmen müssen. Denn hier ging es nur um die Klassifizierung in rote oder schwarze Gruppen. In meiner Familie mütterlicherseits gab es drei berühmte Großgrundbesitzer: Liu, Sha, Shi, nach denen schon seit Jahrhunderten drei Gemeinden in Xuzhou benannt sind. Alle drei Familienoberhäupter wurden unmittelbar nach der Machtübernahme von den Kommunisten auf grausamste Art und Weise ermordet. Die Klassenzugehörigkeit meiner Familie mütterlicherseits war also denkbar schlecht für uns Kinder und durfte auf keinen Fall vererbt werden. Die Klassenzugehörigkeit väterlicherseits fiel in die Kategorie Handel und Kommerz, Klasse nationalistischer Kapitalisten. Beide Elternteile waren also nicht roter Herkunft. Mein Vater wollte aber nicht zulassen, dass meine Klassenzugehörigkeit irgendwie schwarz gefärbt wurde. So verwickelte er die Chefin des Straßenkomitees, eine gewisse Frau Tian, so sehr in eine verwirrende Diskussion, dass sie am Ende völlig entnervt aufgab und meinem Vater erlaubte, meine Klassenzugehörigkeit auf dem Formular seinen Vorstellungen entsprechend anzugeben. So lautete meine Klassenzugehörigkeit, genau wie die meiner Schwester, „revolutionärer Kader“. Das war die Klasse meines Vaters, der im roten China sein Diplom erworben und als Regierungsbeamter gearbeitet hatte. Diese Klassenzugehörigkeit konnte uns Kindern in den ersten zehn Lebensjahren Sicherheit verschaffen und vor politischer Verfemung schützen, obwohl meine Mutter aus einer „ausbeuterischen“ Familie stammte. Unser Schicksal sollte jedoch eine entscheidende Wendung nehmen, als mein Vater als mutmaßliches Mitglied der konterrevolutionären 516-Verschwörerclique ins Gefängnis geworfen wurde. Da war ich bereits neun Jahre alt. Wegen seiner Inhaftierung wurden wir später nachträglich zu Mitgliedern der „Fünf schwarzen Elemente“ gemacht. Es folgten Jahre der Angst vor der Frage nach der Klassenzugehörigkeit, was mich seelisch nicht unversehrt ließ.

      Die Blutlehre der Kommunistischen Partei Chinas, der KPCh, wurde bis heute nicht aufgearbeitet. Millionen Märtyrer, die gegen diese Lehre und für eine Rehabilitation kämpfen, warten vergeblich darauf, dass ihre leidvolle Geschichte aufgearbeitet und ihnen eine ehrbare und unschuldige Jugend zumindest in moralischer Hinsicht zurückgegeben wird. Helden wie Yu Luoke, der in seinem berühmten Aufsatz „Über die Herkunftstheorie“ die Klassenzugehörigkeitspraxis der KPCh sehr zutreffend und sehr überzeugend kritisierte und deswegen 1970 mit nur siebenundzwanzig Jahren hingerichtet wurde, vertraten die Ansicht, dass die Weltanschauung eines Menschen nicht von der Klassenzugehörigkeit abhängig sein konnte. Menschen qua Geburt in gute und schlechte Klassen zu kategorisieren, hätte mit dem Marxismus nichts zu tun und würde Millionen unschuldigen Kindern das Lebensrecht absprechen. Die Politik der kommunistischen Führung, die Menschen systematisch durch Herkunftsverordnungen zu entrechten und zu diskriminieren, glich den Nürnberger Rassengesetzen Nazi-Deutschlands. Unschuldige Menschen wurden aus der zivilen Gesellschaft ausgestoßen. Sie mussten einen schwarzen Flicken auf der Brust tragen und auf jeder Massenversammlung vorsingen:

       „Ich bin ein Rinderteufel und Schlangengeist,

       ich bin wegen meiner Herkunft schuldig,

       ich bin ein geborener Verbrecher gegenüber dem Volk,

       das Volk hat zu Recht die Diktatur über mich.