Xuzhou war einst eine blühende Stadt der Kunst und Literatur. Noch heute kann man überall uralte Steingravuren, Kalligrafien und Malereien bewundern. Und den Gelehrten aus Xuzhou ist die Wiederherstellung und Tradierung der vielfältigen Zeugnisse der Literatur zu verdanken, die einst von der Qin-Dynastieii vernichtet worden waren. Viele der weltweit bekannten Künstler Chinas kommen aus Xuzhou. Große Intellektuelle und Dichter der Antike und der jüngeren Vergangenheit wie Liu Xiangiii , Zhang Daolingiv , Liu Yuxiv , Li Yivi sind in Xuzhou geboren und aufgewachsen. Auch Bai Juyivii und Su Dongpoviii hatten ihre Wirkungsstätte in Xuzhou.
Meine Geburtsstadt ist also uralt. Uralte Städte waren auch immer schon Kriegsschauplätze. In China pflegt man heute noch zu sagen, dass Xuzhou diejenige Stadt sei, die von allen militärischen Strategen erst einmal erobert werden müsse, um weitere Siege in ganz China zu erringen. Denn Xuzhou bildet einen Verkehrsknotenpunkt mitten im Zentrum des chinesischen Wegenetzes. Der Kaiserkanal Peking-Hangzhou verläuft durch die Stadt, kreuzt dort den Huaihe-Fluss, der in das ostchinesische Meer mündet. Die Eisenbahnlinien Longhai von Westen nach Osten kreuzen sich in Xuzhou mit Jinhu von Norden nach Süden ebenso wie die Straßennetze aus allen vier Himmelsrichtungen. Die Provinzen Jiangsu, Shandong, Henan und Anhui treffen in Xuzhou aufeinander. Solche uralten Städte waren immer schon Sammelbecken für Zuwanderer, die zusammen eine multikulturelle Gesellschaft bildeten. In Xuzhou vermischten sich die Einflüsse des Buddhismus, des Daoismus, des Islam und des Christentums mit dem Konfuzianismus und verschmolzen zu einer harmonischen Einheit.
Die geografische Lage der Stadt hat auch den Charakter ihrer Bewohner geformt. Denn im Laufe der drei Jahrtausende langen Geschichte wurde Xuzhou sieben Mal vom Gelben Fluss, dem Huang He, überschwemmt, als dieser seine Laufrichtung änderte und sich über den Huai He seinen Weg ins ostchinesische Meer suchte. Wie überall, wo der Unterlauf des Gelben Flusses Städte durchquert, liegt das Flussbett höher als die jeweilige Stadt selbst. Deshalb wurde der Huang He in Xuzhou auch „der in der Luft schwebende Fluss“ genannt. Ein treffendes Bild dafür, wie gefährlich das Leben mit dem Fluss tatsächlich war. So wurde die Stadt sieben Mal unter Sedimentschichten vergraben, doch nach jeder Überschwemmungskatastrophe bauten die Menschen sie wieder auf – mit Fleiß, Hartnäckigkeit und Ehrlichkeit, jener Basis für das Vertrauen, auf das die Menschen im Angesicht von Katastrophen ganz besonders angewiesen sind. Der Boden rund um Xuzhou war so fruchtbar, dass er demjenigen eine reiche Früchte- und Getreideernte bescherte, der ihn eigenhändig beackerte. Das Sagen in der Stadt hatten der konfuzianischen Morallehre und Staatsdoktrin gemäß die Männer, und die Frauen galten als tapfer und ehrgeizig. Doch wie überall dort, wo die Existenzgrundlage gesichert ist, gaben sich die Menschen von Xuzhou dem Geisterglauben und spirituellen Neigungen hin, was oft zu Streitigkeiten führte. Und so hatte der Führer Mao Zedong in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts leichtes Spiel, als es darum ging, die „Wahrheitsuchenden“ gegeneinander aufzuhetzen und dafür zu sorgen, dass sie sich gegenseitig in den revolutionären Schlachten massakrierten, die er angezettelt hatte. “Kraft des größtmöglichen Chaos unter dem Himmel etabliert man die größtmögliche Ordnung im Lande“, so lautete die Strategie des großen Führers, der leider auch die Menschen in Xuzhou auf den Leim gingen. Nach jeder Schlacht wurden die Sieger als Revolutionäre geehrt, die Verlierer als Konterrevolutionäre verdammt. Allerdings war es in Xuzhou nicht immer ganz leicht zu entscheiden, wer die Sieger und wer die Verlierer waren.
Rot oder schwarz – Eine Frage des Überlebens
Der 14. September 1963 war ein Samstag, ein milder, frühherbstlicher Tag mit einem strahlend blauen Himmel, getupft nur von ein paar weißen Schäfchenwolken. Der Gesang der Zikaden ertönte hier mal anschwellend laut, dort abflauend leise, und die Bäume, immer noch in ihrem schönsten Kleid, verloren ihre ersten bunten Blätter in der zarten, milden Brise. Um welche Uhrzeit ich geboren wurde, kann meine Mutter mir nicht genau sagen. Es war in Xuzhou auch nicht üblich, die genaue Geburtsstunde und -minute zu notieren. Sie weiß aber, dass es vormittags nach neun Uhr gewesen sein muss. Denn als mein Großvater um neun Uhr morgens vorbeikam und sich nach dem Stand der Dinge erkundigte, war ich noch nicht auf der Welt. Und so mussten sich meine Großeltern draußen vor dem Kreißsaal noch etwas gedulden, bis sie schließlich hocherfreut ihr gesundes Enkelkind in die Arme schließen konnten. Sie gaben mir den Kosenamen Dashun. „Da“ bedeutet groß und ist ein Attribut zu „Shun“, was „stromabwärts fahren und in Windrichtung segeln“ heißt. „Shun“, semantisch ein „Unternehmen ohne Widerstand und Gegenwehr“, bedeutet Erfolg, der im Einklang mit den Himmelsregeln und den irdischen Gesetzen steht. So heiße ich nun „Shun“ und trage die frommen Wünsche und die Hoffnung der Großeltern in mir, den rechten Weg im Einklang mit dem gesellschaftlichen Fortschritt zu gehen. Sie wollten mit dieser Namensgebung auch sozialen Ungerechtigkeiten vorbeugen, die sich aus meiner diffusen Klassenzugehörigkeit ergeben konnten. Zu guter Letzt wünschten sie sich ein ehrerbietiges und gehorsames Kind. Denn auch das bedeutet „Shun“: Gehorsam und ehrfurchtsvoller Respekt. Zusammen mit weiteren Charakterzügen ergeben sich daraus weitere vierzig Redewendungen, die wiederum Hunderte von Bedeutungen haben. Doch bevor ich mich in endlosen chinesischen Wortklaubereien verliere: Was meine Großeltern mir mit diesem Kosenamen wünschten, war ein Leben ohne materielle Nöte und ohne seelisches Leid. Sie wünschten mir schlicht und ergreifend körperliche und seelische Unversehrtheit.
Die Zeit, in die ich hineingeboren wurde, entbehrte jedoch jeglicher Harmonie. Als ich im Kreißsaal des „Krankenhauses der Brüderlichkeit“ in der BoÁi-Straße zur Welt kam, war die Luft vom Verwesungsgestank der Leichen von sechsunddreißig Millionen Verhungerten geschwängert, und der Regen spülte immer noch die Blutströme von dreißig Millionen Menschen von den Straßen, die während der proletarischen Diktatur grausam verstümmelt worden waren. Es war eine Zeit des rebellischen Lärmens und terroristischen Getöses, eine Zeit tiefster Finsternis, in der Maos blutige Kampagnen den Alltag bestimmten. Die Menschen wurden in rote und schwarze Kategorien eingeteilt und vermeintliche Feinde auf brutalste Weise gequält oder getötet – und das im Namen einer Ideologie, die eine klassenlose Gesellschaft anstrebte.
Die Zeit, in die ich hineingeboren wurde, war auch eine Zeit der allgemeinen bitteren Armut. Denn die sogenannte große Bodenreform, bei der sowohl große als auch kleine Landbesitzer systematisch enteignet worden waren, hatte statt zu fruchtbaren Ernten zu furchtbaren Gewaltexzessen unter der Bevölkerung geführt und die Idylle des Landlebens in kolossale Armut und Hunger verkehrt. Noch katastrophaler waren die Auswirkungen des „Großen Sprungs nach vorn“, Maos Versuch, aus dem rückständigen Land eine Industrienation zu machen. Der Aufruf an das Volk zum Bau von Hochöfen und zur Stahlproduktion hatte dazu geführt, dass die Bauern ihre Felder vernachlässigten und stattdessen unter erbärmlichsten Bedingungen minderwertiges Eisen produzierten, dem perfiderweise auch dringend benötigte landwirtschaftliche Geräte und Werkzeuge geopfert wurden. So endete der „Große Sprung nach vorn“ Anfang der 1960er-Jahre in einer der größten Hungerkatastrophen der Menschheitsgeschichte.
Nach dem gescheiterten „Großen Sprung nach vorn“ entstand in China eine neue Klassengesellschaft, bestehend aus Armen, Ärmeren und Ärmsten, und die Klassifizierung der Menschen erfolgte aufgrund zweier Kriterien: In politischer Hinsicht wurde man, je nachdem, was für Eltern man hatte, in eine rote oder eine schwarze Klasse eingeteilt, und in materieller Hinsicht fand eine Trennung in Land- und Stadtbewohner statt. Die Menschen wurden unter strengster Überwachung auf ihre jeweilige Klassenzugehörigkeit und ihren Wohnort festgenagelt. Wo man geboren wurde und von welchen Eltern man abstammte, bestimmte also das spätere Schicksal jedes Einzelnen. Nur der Geburtsort war entscheidend dafür, ob man hungern musste oder einigermaßen satt wurde. Wurde man auf dem Land geboren, half einem auch eine rote Herkunft nicht immer,