Peter überstürzte nichts. Er war geduldig, zärtlich und einfühlsam. Und die körperliche Liebe war für Claudia noch nie schöner und erfüllender gewesen. Sehr viel Erfahrung hatte sie in diesen Dingen freilich noch nicht, aber sie gab sich Mühe, und sie enttäuschte Peter, der ihre Unerfahrenheit zu schätzen wusste, nicht.
Mitternacht war vorbei, als sie überglücklich nach Hause kam. Sie schlüpfte aus den Schuhen, sobald sie die Haustür geschlossen hatte, und wollte die Treppe hinaufschleichen.
„Guten Abend.“ Die Stimme des Großvaters kam aus dem dunklen Wohnzimmer, an dessen offener Tür sie gerade vorbeiging. Sie blieb überrascht stehen.
„Großvater. Wieso sitzt du hier unten im Dunkeln?“
„Ich konnte nicht schlafen.“
„Meinetwegen?“ Sie sah seine Silhouette vor dem Fenster. Er saß in seinem Lieblingssessel, hatte seinen Pyjama und seinen Schlafrock an. Seine Füße steckten in den Lederpantoffeln, die sie ihm zum letzten Geburtstag geschenkt hatte.
„Das hat nichts mit dir zu tun“, sagte er. „In meinem Alter kommt das hin und wieder vor.“
„Warum machst du das Licht nicht an?“
„Ich brauche keines.“ Er deutete mit dem Daumen aus dem Fenster. „War das eben Peter Werding?“
„Ja.“ Sie betrat das Wohnzimmer.
„Ist ein netter junger Mann“, befand Ludwig Brauneder, „zuverlässig und tüchtig.“
„Wir lieben uns.“
„Das ging aber schnell.“ Es klang nicht nach einem Vorwurf. „Er ist ja noch nicht lange in der Firma.“
Claudia blieb vor dem Sessel stehen, in dem ihr Großvater saß.
„Du wirst ihm deshalb doch keine Schwierigkeiten machen, oder?“
„Es ist kein Verbrechen, jemanden zu lieben.“ Er war so gütig und verständnisvoll, dass sie ihn innig umarmen und küssen musste.
„Ich kann dir nicht sagen, wie glücklich ich bin, Großvater.“
„Nun, dann wünsche ich mir für dich, dass dieses Glück dir ewig treu bleibt.“
„Wirst du Großmutter erzählen, dass ich so spät heimgekommen bin?“
„Soll es unser kleines Geheimnis bleiben?“ Ludwig Brauneder erhob sich.
„Ich glaube, dass das besser wäre. Sie denkt, ich bin noch immer ein Kind, das früh ins Bett gehört.“
Claudias Großvater lachte leise.
„Es ist gleich halb eins. Das ist früh.“
15
Als Claudia Meeles am Morgen nach dem Zähneputzen ihren Mund ausspülte, war das Wasser, das sie ausspuckte, ziemlich rot. Sie maß dem jedoch keine allzu große Bedeutung bei. Sie nahm sich lediglich vor, beim nächsten Mal nicht so kräftig aufzudrücken, und wenn das nicht helfen sollte, würde sie sich eine Zahnbürste mit Schwingkopf kaufen, denn der übertrug den Druck, den man auf den Stiel ausübte, angeblich nicht auf das Zahnfleisch.
Mehr denn je freute sie sich, ins Büro zu kommen, weil sie da Peter wiedersah. An diesem märchenhaften Morgen lag eine rote Rose auf ihrem Schreibtisch.
Claudia roch mit geschlossenen Augen daran und rief sich selig ins Gedächtnis, wie wunderschön die vergangene Nacht mit Peter gewesen war.
Das Telefon läutete. Sie hob ab.
„Zeitschriftenvertrieb Brauneder. Claudia Meeles. Guten Morgen.“
„Guten Morgen, Liebling.“ Seine Stimme kam warm und zärtlich durch die Leitung.
„Peter.“ Ein verklärtes Lächeln umspielte ihre Lippen.
„Wie hast du geschlafen?“
„Fantastisch.“
„Hast du meine Rose gefunden?“
„Ich halte sie in der Hand.“
„Hier sind noch mehr davon. Darf ich sie rüberbringen?“
Claudia lachte leise. „Wieso bist du noch nicht hier?“
Er brachte die Rosen, einen großen, herrlich duftenden Strauß, für den sich Claudia mit vielen wilden Küssen bedankte. Mit beispielhaftem Eifer stürzte sie sich danach in einen hektischen Arbeitstag. Nichts vermochte sie aus der Ruhe zu bringen, und die neue, himmlische Liebe zu Peter Werding verlieh ihr die Kraft einer jungen Löwin.
Es ließ nicht lange auf sich warten, bis Senta Wagner am Computer ihren nächsten gravierenden Fehler machte. Als sie sich danach aber zum ersten Mal selbst zu helfen vermochte, rannte sie jubelnd durch sämtliche Abteilungen, um allen von ihrem grandiosen Triumph über den heimtückischen Rechner zu berichten. Sie hatte es binnen achtundvierzig Stunden verschmerzt, dass Peter Werding kein privates Interesse an ihr hatte - die neuen Avancen eines gut aussehenden dreiundvierzigjährigen Geschäftsmannes trugen entscheidend dazu bei -, und sie wünschte Claudia Meeles insgeheim neidlos viel Glück mit dem hübschen Jungen.
16
Die Magenspiegelung war ohne Befund geblieben. Dennoch klagte die Patientin - ihr Name war Christine Koberich - über häufige Magenprobleme und Sodbrennen.
„Zahlreiche Menschen leiden gelegentlich unter Magenbeschwerden, ohne dass krankhafte Veränderungen festgestellt werden können“, erklärte Dr. Härtling.
„Woran liegt das?“, wollte die achtunddreißigjährige Frau, die ihm gegenübersaß, wissen. Sie war alleinerziehende Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern und hielt sich mit schlecht bezahlten Teilzeitjobs über Wasser, weil ihr Mann seiner Unterhaltszahlungspflicht nur sehr mangelhaft nachkam.
„Bei vielen Patienten handelt es sich um eine Störung der Bewegungsabläufe im Magen“, erläuterte der Klinikchef. „Durch Stress und hastiges Essen kann die Muskelarbeit der Magenwände, die dafür sorgen, dass der Speisebrei zügig verarbeitet und zum Magenausgang transportiert wird, irritiert sein. Wenn das der Fall ist, gelangt Magensäure in die Speiseröhre und verursacht Sodbrennen.“
Frau Koberich nickte. Dr. Härtling riet ihr zu einem Mittel mit dem Wirkstoff Cisaprid, das sowohl in trinkbarer Flüssigkeit als auch in Tablettenform angeboten wurde. Da ihm bekannt war, dass die Patientin Schwierigkeiten beim Tablettenschlucken hatte, verschrieb er ihr die Flüssigkeit und entließ sie mit einem freundlichen Händedruck.
Über Mittag blieb Dr. Sören Härtling in der Paracelsus-Klinik. Jana hatte sich mit seiner Schwester Trix Lassow verabredet. Ottilie war zu Besuch bei einer sehr alten Bekannten. Ben war von einem Schulfreund zum Barbecue eingeladen worden. Tom und Josee hatten Wandertag. Und Dana erwartete ihren Vater im Kasino des Klinikums.
Während des Essens fragte Sören Härtling: „Hast du inzwischen mit deiner Freundin geredet?“
Dana seufzte. „Claudia schwebt auf Wolke sieben.“
„Ist sie verliebt?“
Dana nickte eifrig. „Bis über beide Ohren.“
„In wen?“
„In einen Kollegen. Sie hat keine Zeit für mich, aber ich bleibe am Ball.“
„Vielleicht macht ihre Großmutter sich wirklich grundlos Sorgen.“
Dana kaute die letzten Röstkartoffeln auf.
„Als ich das letzte Mal mit Claudia telefonierte, hatte ich nicht den Eindruck, dass sie krank ist. Sie wirkte fröhlich und quietschvergnügt.“
„Tja, dann.“