„Hast du nicht noch ’ne Adresse für mich?“
Bongo kratzte sich am kahlgeschorenen Hinterkopf.
„Müsste ich nachdenken.“
„Dann denk nach.“
Bongo hob grinsend sein leeres Glas. „Ohne Sprit?“ Er bekam von Jo einen weiteren Doppelten. „Wenn ich richtig informiert bin, hatte sie bis vor kurzem was mit einem Saxophonisten aus dem Ciao“, sagte der Tätowierte. „Vielleicht kann der Knabe dir weiterhelfen.“
„Wie ist sein Name?“
Bongo lachte schnarrend.
„He, du willst aber verdammt viel für ’nen lumpigen doppelten Korn wissen. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie der Typ heißt, aber du kannst davon ausgehen, dass sie im Ciao nur einen einzigen Saxophonisten haben.“
Jo schlug mit der flachen Hand auf Bongos breiten Rücken.
„Na, dann verschluck dich mal nicht, und viel Spaß mit Heike!“
Bongo machte eine wegwerfende Handbewegung. Jo wollte das Lokal verlassen. Bongo griff nach seinem Arm und hielt ihn fest. Seine Finger drückten wie Eisenklammem zu.
„Was denn! Was denn!“, maulte er. „Du willst doch nicht etwa schon gehen?“
„Doch.“
„Und wohin?“
„Ins Ciao.“
Bongo griente listig.
„Ich hab’ vielleicht noch ’nen Tipp für dich. Für ’n doppeltes Körnchen, versteht sich.“
„Ein andermal“, erwiderte Jo. „Ich prüfe erst mal nach, was der heutige wert ist.“
Bongo ließ ihn los, und er ging. Zehn Minuten später betrat er das Ciao. Es gehörte einem glutäugigen Sizilianer. Als Tourist musste man in diesem Laden sehr vorsichtig sein, wenn man nicht nach Strich und Faden betrogen werden wollte. Wer nicht jede Bestellung sofort bezahlte, fand hinterher mit Sicherheit mehr auf der Rechnung, als ihm serviert worden war, und wenn er nicht nachprüfte, ob das Mädchen, das er zu einem teuren Drink eingeladen hatte, tatsächlich das Bestellte trank, trank es Apfelsaft statt Whisky und Mineralwasser statt Champagner.
Ein schwarzhaariges Mädchen pirschte sich mit den Bewegungen einer Raubkatze an Jo heran. „Na, Großer. So allein?“
„Bist du neu hier?“
„Sieht man das?“ Sie ließ die Hände über ihre atemberaubende Figur gleiten.
Ihre schlanken Finger mit den langen spitzen, violett lackierten Nägeln machten auf dem schwarzen Minikleid eine Berg-und-Tal-Fahrt.
Jo (er war vor den „großen Ferien“ ab und zu im Ciao gewesen) zeigte kein Interesse an ihr, obwohl sie ausnehmend schön war, ebenmäßige Züge und einen süßen kirschroten Mund hatte, denn ein Blick in ihre großen braunen Augen ließ ihn unschwer erkennen, dass sie durch und durch schlecht war.
„Spendierst du mir einen Drink, Großer?“, fragte sie.
Auf einer kleinen Bühne stand ein blondes Mädchen. Sie war noch sehr jung, sang „O Danny Boy“ mit so viel Hingabe, als säße an einem der Tische ein Plattenproduzent. Drei Musiker begleiteten sie - einer am Schlagzeug, einer auf der E-Gitarre und einer am Synthesizer. Und wo war der Saxophonist?
Jo fragte das schwarze Pantherweibchen nach dem Mann, den er vermisste. Sie sagte: „Aldo Radacci gibt es nicht mehr.“
„Gibt es ihn nur nicht mehr hier oder gibt es ihn’ überhaupt nicht mehr?“, wollte Jo Dengelmann wissen.
„Es gibt ihn überhaupt nicht mehr.“
„Und warum nicht?“
,,‘ne Überdosis.“
„Hat er sich ’nen goldenen Schuss verpasst?“
„So kann man es auch sagen.“ Das hübsche Animiermädchen nickte, richtete den Blick nach oben und fuhr fort: „Jetzt spielt er im großen Himmelsorchester.“
„Wann ist das passiert?“
„Vor drei Tagen. Man hat ihn auf dem Klo gefunden. Tot. Die Nadel steckte noch in seiner Vene. Warst du ein Freund von ihm?“
„Er war ein Freund von einer Freundin von mir“, erklärte Jo Dengelmann.
„Er hatte viele Freundinnen.“
„Ich rede von Jeanette.“
„Ist mir nicht bekannt.“
Jo beschrieb Jeanette. Das schwarzhaarige Mädchen schüttelte den Kopf und wiederholte: „Ist mir nicht bekannt.“
Er sprach mit dem Barkeeper, mit zwei weiteren Animiermädchen und mit den Musikern, als sie Pause machten. Niemand konnte ihm helfen. Keiner wusste, wo Jeanette zu finden war. Verdrossen verließ er das Ciao und ging nach Hause, fütterte die Zierfische mit getrockneten Wasserflöhen und setzte sich lustlos vor den Fernseher.
Verflixt noch eins, wo steckt sie?, dachte er mürrisch. Dieser Job, den sie für mich erledigen soll, kann nicht ewig warten. Und ich auch nicht.
Das Telefon läutete. Er griff träge nach dem Hörer. „Ja?“
„Jo“, vernahm er eine samtweiche, ihm bestens bekannte Stimme. „Na, wieder im Rennen?“
Er flitzte hoch, als hätte man ihn mit einer Nadel gepikt.
„Jeanette!“
20
„Wird sie sterben, Vati?“, fragte Dana Härtling mit Tränen in den Augen.
„Ich hoffe, wir können ihr helfen“, antwortete Dr. Härtling ernst. Sie saßen allein im Wohnzimmer. Nur das Ticken einer Uhr störte die Stille, wenn sie schwiegen. Dana fuhr sich mit der Hand über die Augen und sah ihren Vater dann an.
„Als ich mit dir über die Symptome sprach, die ihre Großmutter beunruhigten, wusstest du da schon, was Claudia Meeles fehlt?“
„Ich habe es befürchtet.“
„Warum hast du’s mir verschwiegen?“
„Weil diese Symptome auch viele andere Ursachen haben können. Erst wenn man alle anderen eventuell denkbaren Krankheiten mit Sicherheit ausgeschlossen hat, weiß man, woran man tatsächlich ist. Und darauf kommt man eben erst nach einer sehr gründlichen Untersuchung.“
„Leukämie.“ Dana schüttelte langsam den Kopf. „Claudia.“ Sie sah auf ihre Hände, die auf dem Tisch lagen. „Ich kann es einfach nicht fassen.“
„Wenn sie Glück hat, bringen wir sie durch“, sagte der Klinikchef. „Denk an deine kleine Schwester. Auch Josee konnte gerettet werden.“
„Ja, mit Tom’ Knochenmarkspende.“
„Vielleicht finden wir auch für sie einen geeigneten Spender“, sagte Sören Härtling.
„Tom ist Josees Bruder.“ Dana nahm die Hände vom Tisch. „Claudia hat keinen Bruder.“
„Vielleicht verträgt sie das Knochenmark ihrer Großeltern“, meinte Dr. Härtling.
„Und wenn nicht?“
Der Chefarzt der Paracelsus-Klinik schwieg. Wenn alle medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft waren und sich in Claudia Meeles’ Befinden keine erkennbare Besserung einstellte, stand es sehr, sehr schlecht um sie.
21
Jo Dengelmann atmete erleichtert auf. Endlich meldete sich Jeanette. Ihm waren schon Zweifel gekommen,