Widerstrebend gehorchte Claudia. Sie kehrte in ihr Schlafzimmer zurück, zog sich aus und legte sich ins Bett, während ihr Großvater das Haus ohne sie verließ.
Eine bleierne Müdigkeit überkam sie. Die Augen fielen ihr zu, und wenig später schlief sie tief. Dass ihre Großmutter zweimal nach ihr sah, merkte sie nicht.
Um elf Uhr erwachte sie mit einem furchtbar schlechten Gewissen. Liebe Güte, sie lag hier auf der faulen Haut, obwohl ihr gar nichts fehlte. Sie legte die Hand auf ihren Kopf. Kein Fieber. Keine erhöhte Temperatur. Sie war nicht müde, nicht abgeschlagen, fühlte sich gut.
Nun aber raus mit dir!, befahl sie sich im Geist, stand auf und ging ins Bad. Nach einer erfrischenden Dusche zog sie an, was sie heute schon mal getragen hatte, und ging nach unten.
Großmutter war nicht im Haus, aber sie hörte ihre Stimme, und als sie ans Fenster trat, sah sie sie am Zaun stehen und mit der Nachbarin reden.
Anfang des Monats hatte Jennifer Mahlek, die Nachbarin, zwei Wochen in der Paracelsus-Klinik gelegen. Seither war sie voll des Lobes für Dr. Härtling und seine Kollegen. Ein Krankenhaus wie dieses gab es ihrer Meinung nach kein zweites Mal in Deutschland, in Europa, auf der ganzen Welt. Sie schwelgte immer in Superlativen, egal, wobei.
Als sie Claudia am Fenster stehen sah, winkte sie ihr. Claudia winkte zurück und verließ ihren „Beobachtungsposten“. Wenig später kam ihre Großmutter ins Haus. Obwohl Claudia jetzt frisch und munter aussah, bestand Barbara Brauneder auf einer neuerlichen Temperaturmessung. Mit einer Anzeige von sechsunddreißig fünf war sie dann zufrieden.
„Hat Großvater angerufen?“, fragte Claudia.
„Nein.“ Barbara Brauneder lächelte. „Du siehst, es geht im Büro auch ohne dich. Frau Mahlek meint, du solltest dich mal in der Paracelsus-Klinik ansehen lassen.“
Claudia stellte innerlich die Haare auf. Es interessierte sie nicht die Bohne, was Frau Mahlek meinte.
„Wozu denn? Mir fehlt doch nichts.“
„Du hattest heute Morgen Fieber.“
„Meine Temperatur war leicht erhöht.“
„Und du siehst seit einiger Zeit ein wenig blass aus.“
„Ich war zu wenig in der Sonne“, verteidigte sich Claudia. „Aber es ist heutzutage - wegen des immer größer werdenden Ozonlochs - ohnedies nicht mehr ratsam, sich den gefährlichen UV-Strahlen auszusetzen.“
„Frau Mahlek würde kein anderes Krankenhaus mehr aufsuchen. Für sie ist die Paracelsus-Klinik einsame Spitze.“
Claudia lachte. „Ich wette, das hat sie Dr. Härtling und seinen Kollegen mindestens dreimal am Tag gesagt. Sie ist ein Plappermaul. Deshalb war es auch nicht richtig, ihr von meiner ‘schweren Erkrankung’ zu erzählen, die mich den ganzen Vormittag ans Bett gefesselt hat, weil es nämlich spätestens morgen die ganze Straße weiß.“
Barbara Brauneder wechselte das Thema.
„Hast du Hunger? In einer halben Stunde können wir essen.“
„Ich kauf’ mir unterwegs einen Hamburger.“
„Unterwegs?“
„Ich fahre in die Firma. Ich sehe absolut keinen Grund, auch den Nachmittag zu schwänzen.“
Frau Brauneder schüttelte verständnislos den Kopf.
„Ich begreife nicht, was euch jungen Leuten so sehr an diesen Hamburgern schmeckt.“
„Fast Food ist sehr stark im Kommen.“
„Das ist der Niedergang der traditionellen Esskultur“, klagte Claudias Großmutter. „Die Menschen stopfen nur noch so rasch und so viel wie möglich von irgendwelchem minderwertigem Zeug in sich hinein, bloß, um im Eilzugstempo satt zu werden. Man nimmt sich für eine kultivierte Nahrungsaufnahme keine Zeit mehr. Man isst nicht, man schlingt. Vorbei ist’s mit dem gemütlichen Genießen. Und die Speisen werden auch nicht mehr mit Liebe zubereitet. Das muss alles Ruckzuck gehen, muss in wenigen Sekunden fertig sein. Früher hieß es, der Mensch genießt seine Mahlzeit auf acht Ebenen ...“
„Das tut er noch immer“, behauptete Claudia. „Vielleicht nicht mehr so oft wie früher, aber er tut es noch - in einem tollen Restaurant oder zu Hause im Kreise lieber Freunde, deren Gaumen er mit exzellenten Speisen und delikaten Soßen verwöhnt, für deren Zubereitung er sich sehr viel Zeit genommen hat.“ Sie nahm die Hände ihrer Großmutter. „Die heutige Zeit ist nicht so schlecht, wie du sie machst. Mag sein, dass früher vieles anders war. Aber es war bestimmt nicht alles besser.“ Sie schüttelte die Hände der Sechzigjährigen. „Darf ich jetzt gehen?“
9
Die Patientin war zur jährlichen Kontrolluntersuchung gekommen, und Dr. Härtling konnte ihr die beruhigende Mitteilung machen, dass mit ihr alles in Ordnung war.
„Dennoch habe ich ein kleines Problem, Herr Doktor“, sagte die fünfundvierzigjährige Frau. Sie war leicht übergewichtig, wusste ihre Üppigkeit aber mit eleganter Kleidung gut zu kaschieren.
„Was ist das für ein Problem, Frau Rehberger?“, fragte der Klinikchef.
Renate Rehberger seufzte.
„Ich schlafe nachts sehr schlecht, wache vier- bis fünfmal auf und fühle mich am Morgen wie gerädert.“
„Schlafen Sie bei offenem Fenster?“
„Ja, das tue ich.“
„Lärm und Lichtreize gehören zu den typischen und häufigsten Störfaktoren“, erklärte Sören Härtling. „Ist es nachts in der Gegend, in der Sie wohnen, laut?“
„Ziemlich häufig. Ja.“
„Dann sollten Sie lieber nicht bei offenem Fenster schlafen“, riet Dr. Härtling der Frau. „Schaffen Sie sich außerdem ein dunkelgrünes Rollo an, das kein Licht durchlässt. Und als Gute-Nacht-Trunk ist warme Milch mit Honig ideal. Sie fördert den Schlaf und stärkt den Kreislauf. Wichtig ist natürlich auch, dass Sie abends nicht mehr schwer und kalorienreich essen. Machen Sie nach dem Abendessen noch einen kleinen Spaziergang, weil dieser Sauerstoffschub dem Gehirn nämlich ungemein guttut.“ Renate Rehberger nickte zu allen seinen Tipps. Der Chefarzt geleitete die Patientin zur Tür.
„Ich bin sicher, Sie werden bald wieder so gut wie früher schlafen, wenn Sie meine Ratschläge befolgen“, sagte er.
„Tja, dann sehen wir uns wohl erst in einem Jahr wieder“, meinte die Frau und ging hinaus.
Sie war die letzte Patientin gewesen. Die Nachmittagssprechstunde war damit zu Ende. Dr. Härtling ging in sein Büro und widmete sich administrativen Aufgaben, die auch erledigt werden wollten. Moni Wolfram, seine hübsche, sympathische Sekretärin (sie war mit dem tüchtigen Assistenzarzt Dr. Michael Wolfram seit längerem glücklich verheiratet), stellte einen Anruf von Frau Brauneder zu ihm durch. Er wusste, dass sie Claudia Meeles’ Großmutter war.
„Frau Brauneder“, sagte er freundlich. „Was kann ich für Sie tun?“
„Wenn Sie heute, so gegen elf Uhr, Schluckauf hatten, dann waren unsere Nachbarin, Frau Mahlek, und ich daran schuld!“
„Wieso?“
„Weil wir über Sie geredet haben.“
Der Klinikchef lachte. „Ach so. Hat Frau Mahlek die Werbetrommel für die Paracelsus-Klinik gerührt?“
„Das hat sie. Und wie. Wenn sich demnächst halb München bei Ihnen einfindet, um sich von Ihnen und Ihren Kollegen behandeln zu lassen, haben Sie das einzig und allein Jennifer Mahleks offensiver Publicity-Kampagne zu verdanken.“
„Haben