„Ich rufe wegen Claudia an“, sagte Barbara Brauneder.
„Ist sie krank?“
„Sie macht mir in letzter Zeit ein bisschen Sorgen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie nicht völlig gesund ist.“
„Dana hat nichts dergleichen erwähnt“, sagte Dr. Härtling.
„Ihre Tochter sieht Claudia nicht so oft wie ich. Dadurch fällt mir zwangsläufig jede Veränderung eher auf als irgendjemandem sonst. Vielleicht ist meine Fürsorge ja etwas übertrieben, aber ich meine, es ist besser, sich um jemanden zu viel zu kümmern als zu wenig.“
„Was ist es konkret, das Ihnen Kummer macht, Frau Brauneder?“
„Na ja, Claudia hat hin und wieder keinen rechten Appetit ...“
„Das kommt bei jedem ab und zu vor.“
„Ihre Haut ist blass, und heute Morgen war ihre Temperatur leicht erhöht.“
„Wieviel haben Sie gemessen?“, erkundigte sich Sören Härtling.
„Siebenunddreißig acht. Wäre an und für sich kein Grund, sich zu beunruhigen, aber Großmütter sind nun mal besonders vorsichtig ...“
„Möchten Sie, dass ich mir Ihre Enkelin ansehe?“
„Ja, das wäre mir sehr recht. Ich habe ihr das auch vorgeschlagen, aber sie will davon nichts wissen.“
„Das wirft natürlich ein kleines Problem auf“, sagte Dr. Härtling.
Barbara Brauneder meinte: „Auf ihre Großmutter hört sie nicht, aber vielleicht könnte Dana mit ihr reden.“
„Dana“, sagte Sören Härtling nachdenklich. „Ja, das wäre eine Möglichkeit.“
10
Peter Werding hatte sich innerhalb kürzester Zeit sehr gut eingearbeitet. Er war ein aufgeweckter junger Mann, dem man nichts zweimal zu erklären brauchte - und er hatte keine Angst vor Computern.
Wenn er gestern im Haus gewesen wäre, hätte sich Frau Wagner viele Tränen erspart, aber er war von Ludwig Brauneder zum Zollamt Walserberg an der österreichischen Grenze geschickt worden, weil dort eine Lieferung aus Ungarn hängengeblieben war. Inzwischen war die Sachlage mit den Behörden geklärt und bereinigt, die Lieferung befand sich in München und wartete darauf, über den süddeutschen Raum verteilt zu werden, und Peter Werding stand wieder im Büro zur Verfügung.
Gepflegtes Aussehen und ein selbstsicheres Auftreten zeichneten den Sechsundzwanzigjährigen aus. Er trug das dichte brünette Haar nicht zu kurz und nicht zu lang, machte auf jedermann den besten Eindruck, war sympathisch, witzig und wortgewandt. Claudia Meeles schätzte ihn als tüchtigen Kollegen sehr. Er war eine echte Bereicherung für das kleine Team, und er entlastete Claudia jetzt schon mehr, als Frau Wagner es jemals schaffen würde.
Claudias Bürotür stand offen. Peter Werding klopfte an den Rahmen.
„Darf ich dich kurz stören?“ Er hielt drei Listen in der Hand.
„Klar. Komm rein!“
„Was soll ich mit den ‘Corso’-Remittenden aus Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg machen? Werden sie verramscht oder eingestampft?“
„Weder noch“, antwortete Claudia. „Die gehen erst noch in die Schweiz und nach Österreich, und was von da zurückkommt, wird zu Sammelnummern gebunden und für wenig Geld verschleudert.“
Peter Werding nickte.
„Alles klar. Schade, dass ich gestern nicht da war, als Frau Wagner den Computerabsturz fabrizierte.“
„Du wirst noch öfter Gelegenheit haben, ihr zu helfen. Ihr Rechner hängt sich ein- bis zweimal im Monat auf, weil sie irgendetwas falsch gemacht hat.“
„Hat man sie nicht eingeschult?“
„Doch, aber sie hat nur einen Bruchteil davon begriffen - und davon wiederum nur einen verschwindend geringen Bruchteil behalten.“
„Ich habe ihr gesagt, dass sie sich jederzeit an mich wenden kann, wenn sie Schwierigkeiten hat. Wir werden es schon irgendwie schaffen, ihre Fehlerquote auf ein erträgliches Maß zu senken.“ Peter Werding lächelte. „Wäre doch gelacht, wenn wir das mit vereinten Kräften nicht hinkriegen würden, nicht wahr?“ Er kehrte in sein Büro zurück, und Claudia verglich ihn - ohne es zu wollen - mit Hermann Tengg, der sie so schwer enttäuscht hatte. Peter war ganz anders. Der war kein Luftikus. Der war seriös. Ein Mann, auf den man sich verlassen, dem man vertrauen konnte. Dieses gute, beruhigende Gefühl hatte sie bei Hermann nie gehabt.
11
Am Abend dieses Tages fragte Dr. Härtling seine Tochter: „Hast du ein bisschen Zeit, Dana?“
Sie lag in ihrem Zimmer mit Kopfhörern auf dem Teppichboden und hörte sich die neueste Scheibe von „No Mercy“ an. Da sie nicht verstanden hatte, was ihr Vater gesagt hatte, nahm sie die Hörer ab und fragte: „Wie bitte?“
Der Klinikchef wiederholte seine Frage. Dana nickte und winkte ihn herein. Sie schaltete den CD-Player ab, und Sören setzte sich im Schneidersitz zu ihr auf den Boden. Auch Dana verschränkte die Beine. Dr. Härtling musterte sie und dachte: Gott, wie erwachsen sie schon aussieht. Dessen wird man sich die meiste Zeit gar nicht bewusst.
„Worum geht’s denn?“, erkundigte sich Dana.
„Um deine Tennisfreundin Claudia Meeles“, antwortete Sören Härtling.
„War sie heute bei dir in der Paracelsus-Klinik?“
„Nein, aber vielleicht sollte sie mich da mal besuchen.“
„Weswegen? Sie ist doch nicht etwa krank?“
Sören erwähnte den Anruf von Frau Brauneder.
„Ich glaube, sie macht sich völlig unbegründet Sorgen“, sagte Dana. „Claudia hat großartiges Tennis gespielt. Das könnte sie wohl kaum, wenn sie gesundheitlich nicht auf der Höhe wäre.“
„Es würde ihre Großmutter beruhigen, wenn sie sich in der Paracelsus-Klinik untersuchen lassen würde.“
Dana nickte. „Und ich soll’s ihr verklickern.“
„Ihr seid etwa gleichalt. Von dir nimmt sie eher etwas an als von ihrer Großmutter.“
„Ich kann’s ja mal versuchen.“
„Danke, Dana.“ Der Chefarzt der Paracelsus-Klinik erhob sich.
Dana hob den Kopf und blickte zu ihm hoch.
„Worauf lassen die von Frau Brauneder geschilderten Symptome schließen?“
„Ich möchte mich auf keine Spekulationen einlassen“, erwiderte Sören Härtling.
„Ich rede mit Claudia.“
„Fein“, sagte Dr. Härtling und verließ das Zimmer seiner Tochter wieder.
12
Frau Wagner sortierte Briefe und stellte Pakete für den Versand zusammen, während sie auf Peter Werding wartete. Ihrem Computer blieb sie sicherheitshalber fern, damit nicht wieder das elektronische Chaos ausbrach. Der junge Mann hatte versprochen, ihr ein paar Tricks und Kniffe für die Handhabung des Rechners beizubringen, und sonderbarerweise sperrte sie sich bei ihm überhaupt nicht. Von ihm wollte sie sich sehr gern das erforderliche EDV-Know-how beibringen lassen. Wenn er ihr etwas erklärte, sträubte sich ihr Inneres merkwürdigerweise kein bisschen. Von ihm nahm sie alles, was er sagte, bereitwillig an, denn er hatte etwas an sich ...
Natürlich war ihr klar,