Clary tat wie ihr geheißen. Als sie sich direkt gegenüberstanden, reichte ihr Scheitel gerade einmal bis zu seinem Kinn. Locker legte sie ihre Hände auf seine Oberarmmuskeln.
»Muay Thai wird als die ›Kunst der acht Gliedmaßen‹ bezeichnet. Weil man dabei nämlich nicht nur seine Fäuste und Füße als Waffe einsetzt, sondern auch Knie und Ellbogen. Zuerst musst du deinen Gegner zu dir heranziehen und dann schlägst du mit jedem deiner ›Waffen‹ zu, bis er oder sie zu Boden geht.«
»Und das funktioniert bei Dämonen?«, fragte Clary und hob skeptisch die Augenbrauen.
»Bei den kleineren.« Jace trat einen Schritt näher. »Okay. Streck deine Hand aus und leg sie mir in den Nacken!«
Clary schaffte es gerade so, seiner Aufforderung nachzukommen, ohne sich auf die Zehenspitzen zu stellen – nicht zum ersten Mal verfluchte sie die Tatsache, dass sie so klein war.
»Jetzt mach dasselbe mit deiner anderen Hand und verschränk beide Hände in meinem Nacken!«
Clary befolgte Jace’ Anweisung. Sein Nacken fühlte sich von der Sonne ganz warm an und seine weichen Haare kitzelten sie an den Fingern. Ihre Körper waren eng aneinandergepresst und Clary konnte den Ring an der Kette um ihren Hals spüren… wie er zwischen ihnen zusammengedrückt wurde, so wie ein Kieselstein zwischen zwei Handflächen.
»In einem richtigen Kampf würdest du diese Bewegung natürlich viel schneller ausführen«, erklärte Jace. Falls Clary sich nicht täuschte, klang seine Stimme dabei ein wenig rau. »Also, dieser Griff um den Nacken erlaubt dir eine gewisse Hebelkraft. Und diese Hebelkraft wirst du nun dazu nutzen, dich selbst nach vorn zu ziehen und deinem nach oben ausgeführten Knietritt mehr Wucht zu verleihen…«
»Du meine Güte«, spöttelte in diesem Moment eine kühle, leicht belustigte Stimme. »Gerade einmal sechs Wochen zusammen und schon geht ihr euch gegenseitig an die Kehle?! Wie rasch die Liebe der Irdischen doch schwindet.«
Sofort lockerte Clary ihren Griff um Jace’ Nacken und wirbelte herum. Dabei wusste sie längst, wer da sprach: Die Königin des Lichten Volkes stand im Schatten zwischen zwei Bäumen. Clary fragte sich, ob sie sie – trotz ihrer Gabe des Zweiten Gesichts – überhaupt wahrgenommen hätte, wenn die Feenkönigin sich nicht bemerkbar gemacht hätte. Denn sie trug ein grünes Kleid von der Farbe der Gräser und ihre Haare, die ihre Schultern umspielten, schimmerten im Ton eines Herbstblatts. Sie war zugleich so schön und schrecklich wie eine vergehende Jahreszeit und Clary hatte ihr nie über den Weg getraut.
»Was tut Ihr hier?«, erkundigte Jace sich distanziert und mit zusammengekniffenen Augen. »Dies ist Schattenjägerterrain.«
»Und ich habe Neuigkeiten, die für die Schattenjäger interessant sein dürften.« Als die Elbenkönigin anmutig einen Schritt vortrat, fiel ein Sonnenstrahl durch das Blätterdach und ließ den Reif aus goldenen Beeren auf ihrem Haupt aufblitzen. Clary fragte sich manchmal, ob die Königin diese theatralischen Auftritte plante, und wenn ja, wie. »Es hat einen weiteren Todesfall gegeben«, fügte sie hinzu.
»Was für eine Art von Todesfall?«
»Es hat einen weiteren von euch getroffen. Ein toter Nephilim.« Aus den Worten der Elbenkönigin sprach eine gewisse Wonne. »Der Leichnam wurde in der Morgendämmerung unterhalb der Oak Bridge aufgefunden. Und wie ihr ja wisst, ist der Central Park mein Territorium. Ein toter Mensch wäre für mich nicht weiter von Bedeutung gewesen, doch bei dem Toten schien es sich nicht um einen Irdischen zu handeln. Deshalb wurde der Leichnam an meinen Hof gebracht und dort von meinen Heilkundigen untersucht. Sie erklärten den Toten für einen aus euren Reihen.«
Rasch schaute Clary zu Jace, da sie sich an die Nachricht von dem toten Schattenjäger zwei Tage zuvor erinnerte. Und sie konnte ihm ansehen, dass er dasselbe dachte, denn er erbleichte.
»Wo ist der Leichnam jetzt?«, fragte er.
»Machst du dir Sorgen hinsichtlich meiner Gastfreundschaft? Der Tote befindet sich an meinem Hof und ich kann dir versichern, dass wir seinem Leichnam denselben Respekt zollen wie einem lebenden Schattenjäger. Nun, da ein Vertreter meines Volkes einen Sitz in der Kongregation innehat, direkt neben deinesgleichen, kannst du unsere Redlichkeit wohl kaum infrage stellen.«
»Und wie immer gehen Redlichkeit und Eure Ladyschaft Hand in Hand.« Der Sarkasmus in Jace’ Stimme war nicht zu überhören, doch die Königin lächelte nur fein.
Offensichtlich mochte sie Jace – so wie alle Feenwesen schöne Dinge mochten, einfach um ihrer Schönheit willen, überlegte Clary. Allerdings konnte sie nicht davon ausgehen, dass die Königin auch sie mochte, und dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.
»Aber warum überbringt Ihr diese Nachricht uns statt Maryse? Es wäre doch Sitte, dass…«
»Ach, Sitte.« Mit einer abschätzigen Handbewegung setzte die Königin sich über die gesellschaftlichen Konventionen hinweg. »Ihr seid hier. Es erschien mir zweckdienlich.«
Jace schenkte ihr einen weiteren Blick aus skeptisch zusammengekniffenen Augen und klappte sein Mobiltelefon auf. Dann bedeutete er Clary zu bleiben und ging ein paar Schritte beiseite. Sie konnte hören, wie er »Maryse?« fragte, als am anderen Ende der Leitung jemand abhob. Allerdings wurden seine weiteren Worte von den lauten Rufen auf den nahe gelegenen Sportplätzen verschluckt.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen wandte Clary sich der Feenkönigin wieder zu. Sie hatte sie seit jenem letzten Abend in Idris nicht mehr gesehen; damals war sie nicht besonders höflich zu ihr gewesen und Clary bezweifelte, dass die Königin dieses Verhalten vergessen oder vergeben hatte. Willst du wahrhaftig einen Gefallen der Königin des Lichten Volkes ausschlagen?
»Ich habe gehört, Meliorn hat einen Sitz in der Kongregation erhalten«, setzte Clary nun an. »Das muss Euch sehr gefreut haben.«
»In der Tat.« Die Königin betrachtete sie mit unverhohlener Belustigung. »Ich bin gebührend entzückt.«
»Dann… dann hegen Sie also keinen Groll?«, fragte Clary.
Das Lächeln der Königin gefror um ihre Lippen, so wie Frost zuerst den Rand eines Teichs erstarren lässt. »Ich vermute, du beziehst dich auf mein Angebot, das du so rüde abgelehnt hast«, erwiderte sie. »Wie du ja weißt, habe ich mein Ziel dessen ungeachtet erreicht. Du bist also diejenige, die das Nachsehen hat, wie mir die meisten sicherlich beipflichten würden.«
»Ich habe Euer Angebot nicht gewünscht«, erklärte Clary fest und versuchte dabei, den scharfen Ton in ihrer Stimme zu unterdrücken, was ihr aber nicht gelang. »Die Leute tun nicht immer das, was Ihr von ihnen wollt.«
»Wage es nicht, mir Vorhaltungen zu machen, meine Kleine.« Die Königin schaute zu Jace hinüber, der mit dem Mobiltelefon am Ohr unter den Bäumen auf und ab lief. »Er ist wunderschön«, bemerkte sie. »Ich kann verstehen, warum du ihn liebst. Aber hast du dich je gefragt, was es ist, das ihn zu dir hinzieht?«
Clary schwieg – was hätte sie auch darauf antworten sollen?
»Das Himmlische Blut bindet euch beide«, fuhr die Königin fort. »Die Stimme des Blutes lässt sich nicht ignorieren. Aber Liebe und Blut sind nicht dasselbe.«
»Rätsel, nichts als Rätsel«, schnaubte Clary wütend. »Verbinden Sie mit diesem Gerede eigentlich irgendeine Bedeutung?«
»Er ist an dich gebunden«, näselte die Königin. »Aber liebt er dich auch?«
Clary