Absender Ost-Berlin. Thomas Pohl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Pohl
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347069398
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du bei ihm einziehen?“

      „Wahrscheinlich in drei bis vier Wochen.“

      Der dürre Mann drehte sich Anna zu und hob anerkennend seine Augenbrauen.

      „Kamille.“

      Sie begann die beiden einzigen Tassen der Küche unter dem dünnen Wasserstrahl zu spülen, kramte zwei Teebeutel aus einer orangfarbenen Plastikdose und übergoss den Tee.

      „Immer noch der Magen?“

      Ihr Gegenüber nickte unmerklich. Anna wusste um die Vorgeschichte des unterernährten Mannes. Obwohl schon längst im Pensionsalter, ließ Alfred nicht von seiner Position als Führungsoffizier ab. Zu tief waren die Wunden in seiner kommunistischen Seele. So viel gab es noch zu tun, um das große Ziel zu erreichen. Das Unrechtssystem des Kapitalismus durfte einfach nicht siegen. Alfred war ihr Protegé.

      „Du musst ihn nach Bonn bringen.“

      „Nach Bonn? Aber wie soll ich?“

      „Du sollst ihn motivieren. Der Rest ergibt sich.“

      Anna begriff.

      „Der Neue will es so.“

      Alfred grinste. Sie atmete tief ein.

      „Er ist aufgestiegen?“

      „Ja. Mielke hat ihn gefressen. Seine Vollmachten haben sich verdoppelt.“

      Anne stutzte.

      „Ungewöhnlich für einen Überläufer.“

      „Allerdings. Aber seine Pläne dienen unserer Sache. Und sie sind gut.“

      Alfred verbesserte sich: „Brillant!“

      Er wickelte den Faden um den Teebeutel und drückte die Flüssigkeit über der Tasse aus. Seine Hand zitterte leicht. Anna nahm ihm den Beutel ab, hielt ihre Hand darunter und warf ihn in die leere Einkaufstüte neben dem Herd. Sie schaute besorgt in Alfreds Gesicht.

      „Soll ich dir noch etwas einkaufen?“

      „Danke, ich habe alles. Aber du müsstest etwas anderes für mich übernehmen.“

      Alfreds Blick senkte sich auf den Tisch. Es war offensichtlich, dass der alternde Agent Schwierigkeiten hatte, weiter zu reden. Anna ging einen Schritt auf den Küchentisch zu. Unsicher, ob sie bereits die notwendige Distanz unterschritt.

      „Ja?“

      Alfred hielt seinen Kopf gesenkt: „Du musst zukünftig die Dokumente zustellen.“

      Anna war klar, dass dies ihre Tarnung gefährden würde. Zugleich wusste sie, dass ihr Führungsoffizier ihr nie eine Aufgabe geben würde, deren Tragweite er nicht kalkuliert und sorgfältig durchdacht hätte. Trotzdem verstieß dieser — wenn auch nett formulierte — Befehl gegen alle Direktiven, die sie in ihrer Ausbildung gelernt hatte.

      Alfred las ihre Gedanken.

      „Ich bin inzwischen eine Gefahr für die Operation. Bei der letzten Übergabe ist er mir fast auf die Spur gekommen. Nur zwei Meter weiter und er hätte mich unter der Aussichtsplattform an der Mauer entdeckt.“

      Anna schwieg. Ihr ohnehin riskantes Rollenspiel sollte um ein weiteres Risiko gefährlicher werden.

      „Kann nicht jemand anderes?“

      „Es gibt keinen anderen. Zu viele sind in den Westen übergelaufen.“

       10. Nach der Liebesnacht

      Seine Hand lag direkt vor seinem Gesicht. Der Duft ihres Schoßes haftete noch an seinen Fingern. Michael schob die Hand noch etwas näher an seine Nase und atmete tief ein. Es war der Geruch von Annas Hemmungslosigkeit. Die halbe Nacht hatten sie es miteinander getrieben. Hatten aneinandergeklebt. Waren verschmolzen. Zweimal war er explodiert. So sehr hatte sie ihn gereizt. Michael strich über ihren weichen Oberarm. Anna zeigte keine Reaktion. Er drehte sich auf den Rücken und legte seine Arme unter seinen Kopf. Sein Blick fiel auf die weißen Stuckverzierungen an der Zimmerdecke und seine Mundwinkel formten sich entspannt zu einem Lächeln. Ihre Haut berührte seinen nackten Körper. Eine tiefe Entspannung durchflutete ihn. Nicht nur sexuell. Erstmals spürte er die kompromisslose Verbindung von Liebe und Körperlichkeit. Nicht der Hauch eines Gedankens nach Flucht oder Reue. Es war der Beginn des Verweilens. Das alles fühlte sich richtig an. Michael war glücklich. Ihr ruhiges Atmen lieferte den balladenhaften Rhythmus für den Aufbruch in eine neue Epoche. Unendlich lange Minuten verblieb Michael in dieser neuen Position. Genoss den Gedanken seines Bekenntnisses für Anna. Er fühlte sich hellwach. Sanft küsste er ihre freiliegende Schulter, bevor er aus dem Bett stieg.

      Mit leisen Schritten ging Michael auf das große Fenster des Schlafzimmers zu und schob den Vorhang zur Seite. Mit dem Blick auf die Straße und die gegenüberliegende Häuserzeile störte er sich nicht an seiner eigenen Nacktheit. Sollten sie ihn doch alle sehen. Er hatte nichts zu verbergen. Das was er getan hatte und vor hatte zu tun, entbehrte jedes Gedankens der Scham und Unehrenhaftigkeit. Selbst als bei der Erinnerung an die vergangene Liebesnacht wieder die Erregung in ihm aufstieg, blieb er unverändert vor dem Fenster stehen und genoss die Stille dieses Sonntagmorgens. Er blickte auf die Sonne über den Dächern von Berlin, die ihre langen Schatten über das Panorama warfen.

      Es war ein ihm wohl bekanntes metallisches Geräusch, das Michael aus seiner friedvollen Gedankenwelt riss. Zunächst noch unsicher gegenüber seiner eigenen Wahrnehmung horchte er genauer hin. Jetzt drang das lautstarke Zufallen der Eingangstür ebenfalls bis in den dritten Stock. Das war zunächst nichts Ungewöhnliches. Doch die Kombination der Eingangstür mit dem metallischen Klappen des Briefkastens passte so gar nicht in diesen Moment. Michael beschlich ein bekanntes, ihm unangenehmes Gefühl. Sich auf die Zehenspitzen streckend, versuchte er einen Blick auf den Bürgersteig vor dem Haus zu erhaschen. Doch der Sichtwinkel durch die geschlossene Scheibe ließ wie immer keinen Ausblick direkt nach unten zu. Würde er die Fensterbank leerräumen und das Fenster öffnen, wäre derjenige, wären diejenigen bereits schon über alle Berge. Also drehte er sich um, griff seine Jeans und sein T-Shirt vom Stuhl und schlich sich dabei anziehend in Richtung Wohnungstür.

      Er sah über das Treppengeländer. Nichts. Wenige Sekunden später erreichte Michael das Erdgeschoss. Ihn überkam das inzwischen schon gewohnte Herzklopfen, als er den Schlüssel in das Schloss seines Briefkastens steckte. Das Drehen erzeugte ein unüberhörbares Klacken. Das Fach sprang auf. Doch diesmal war es leer.

      Michael hielt für einen Moment inne. Er war sich sicher, dass er das Geräusch der metallischen Briefkastenklappe gehört hatte. Zu häufig schon war es für ihn das Signal gewesen. Zusammen mit der immer gleichen Sequenz der zuschlagenden Eichentür. Er hatte sich nicht geirrt.

      Ohne zu zögern, öffnete er die schwere Haustür und rannte los.

      „Gibst du mir noch ein Brötchen?“

      Anna hatte nur eins seiner bedruckten T-Shirts übergestreift. Das Porträt von Frank Zappa wurde von ihrer Brust leicht verformt. Selbst ungeschminkt und mit zerzaustem Haar übte Anna ihren ungebremsten Charme auf ihn aus. Mit einer langsamen Handbewegung streifte sie eine Strähne hinter ihr Ohr. Eine jener markanten Bewegungen, die sie auf ihn aufmerksam machte. Ein Detail in der Summe so liebenswerter Handlungen, die in ihm das Bedürfnis weckten, so dicht wie möglich an dieser Frau zu sein. Sie zu berühren, zu riechen und zu schmecken. In sie einzudringen und seine Gedanken zu teilen. Ihre Worte erzeugten in ihm ein süchtiges Gefühl nach mehr. Nach mehr Worten. Nach nicht enden wollender Nähe.

      „Süß von dir, Brötchen zu holen.“

      Michael lächelte verlegen.

      „Ich war joggen.“

      „Okay.“ Durch Annas Reaktion schimmerte so etwas wie Skepsis. Oder bildete er sich das nur ein?

      „Wo bist du langgelaufen?“

      „An der Mauer.“ Und das war noch nicht einmal gelogen. Trotzdem versuchte Michael Annas Blick auszuweichen. Zugleich ärgerte ihn diese kleine Lüge. War das eine gute Voraussetzung