Absender Ost-Berlin. Thomas Pohl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Pohl
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347069398
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Merkmal, einen freien Arbeitsplatz vor sich zu haben. Ohne mitzuschreiben. Bloß nicht in irgendwelcher Literatur nachschlagen. Anna hatte da schon einiges mehr zu verstauen.

      Auf dem Flur vor dem Hörsaal trafen sie aufeinander. Zumindest hatte Michael bewusst einen Umweg einkalkuliert, um ihr gezielt über den Weg zu laufen. Der Blickkontakt war unvermeidlich. Sie schaute mit einem knappen Lächeln auf, das Michael bereitwillig aufnahm. Gerade als sie ihm schon wieder den Rücken zuwandte, fuhr es ihm über die Lippen: „Anna?“

      Zugleich ärgerte er sich über seine unüberlegte Äußerung. Sie hatten sich bislang noch nicht einander vorgestellt. Der Umstand, dass er ihren Namen kannte, entlarvte sein Interesse an ihr. Und doch war er froh, die Unachtsamkeit begangen zu haben.

      „Hallo!“

      Ihre Stimme fuhr ihm bis unter die Haut. Sein eloquenter Redefluss funktionierte nicht wie sonst.

      „Ich wollt` nur sagen …“

      „Ja?“

      „Deine Frage war … durchaus berechtigt.“

      „Welche Frage?“

      „Na das mit den veralteten Waffensystemen und so.“

      Ihr Blick war skeptisch.

      „Ach?“

      Die Kürze ihrer Antworten irritierte ihn. Sie gab ihm einfach keine Chance. Doch irgendetwas sagte ihm, dass es noch zu früh war, klein beizugeben. Anna verschränkte ihre Arme. Es sah aus, als wolle sie wieder zum Angriff übergehen.

      „Kannst du auch was Anderes als große Töne spucken?“

      Obwohl Annas Tonfall das Gegenteil einer Einladung ausdrückte, war es genau das, was Michael aus der Bodendeckung aufstehen ließ.

      „Kann ich. Aber dafür bedarf es einer …“

      Michael legte eine Kunstpause ein.

      „… einer kleinen Entführung.“

      Er bemerkte ein kurzes Funkeln in ihren Augen. Die Katze zog für einen Moment ihre Krallen ein.

      „Und wann meint der Klugscheißer, mich meiner Freiheit berauben zu wollen?“

      Michael lächelte.

      „Samstag? So um elf?“

      Anna lächelte für einen Moment zurück. Noch bevor Anna wieder etwas Schnippisches entgegnen konnte, schloss er seine Rede ab und ging rückwärts von ihr weg.

      „Café Kranzler. Nimm deinen Personalausweis mit.“

      Dann drehte sich Michael um.

      Er bildete sich ein, ihren verwirrten Blick auf seinem Rücken zu spüren. Ihr immer noch abgewandt rief er laut in den Flur:

      „Du hast mich schon verstanden. Denk` an deinen Ausweis!“

      Es war ein eigentümliches Grinsen, das sich um Annas Mund legte. Doch in diesem Moment war Michael bereits um die Ecke verschwunden.

       4. Ost-Berlin

      Es hatte aufgehört zu regnen. Der große Mercedesstern auf dem Hochhausdach neben der Gedächtniskirche drehte sich regennass in der Vormittagssonne. Anna klappte ihren Taschenspiegel zusammen und verschloss ihren Lippenstift. Die Spiegelwand des Cafés reflektierte das Rot ihrer Lippen im farblosen einerlei zweckmäßiger Kleidung der umgebenen Rentner. Vielleicht ein wenig zu rot. Anna war klar, dass ihre Anwesenheit hier den Altersdurchschnitt drastisch senkte. Ihr Blick fiel unwillkürlich auf den dampfenden Asphalt des Ku’damms.

      Ihren Kaffee hatte Anna bereits seit einiger Zeit ausgetrunken. Mit dem Löffel kratzte sie die Reste der aufgeschäumten Milch aus der Innenseite der Tasse. Dann schob sie das leere Geschirr von sich weg. Die belanglose Konversation von plauderten Touristen und Pensionären mischte sich mit dem Klappern von Porzellan und Kuchenkabeln. Annas Blick wechselte zwischen der Aussicht durch die Scheiben auf die Stadt und der Eingangstür des Cafés. Michael ließ auf sich warten. Anna hatte sich absichtlich in das Rondell im ersten Stock des Café Kranzlers gesetzt. Von hier hatte sie den besten Blick auf das emsige Treiben. Die breite Fußgängerpromenade füllte sich nach dem Regen langsam mit Menschen. Unübersichtlich durcheinander laufend drängten sich die Passanten mit Einkaufstüten auf dem noch nassen Asphalt. Bis auf einen. Angelehnt an die Fußgängerampel stand er vor dem Café Kranzler und schaute mit verschränkten Armen in ihre Richtung. Sein breites Grinsen war bis in den ersten Stock des Cafés zu erkennen. Sie bemerkte Michael auf den ersten Blick. Anna hob instinktiv ihre Hand. Michael winkte zurück. Ein klares Zeichen, zu ihm heraus zu kommen.

      Es war eine kurze und zugleich unbeabsichtigt zärtliche Berührung ihrer Wangen. Das leise schmatzende Geräusch der begrüßenden Luftküsse traf nahezu zeitgleich ihre Ohren. Und dann gingen beide mit höflicher Distanz schlendernd nebeneinander her. Vorbei an Läden mit billigen Berliner Souvenirs, Wechselstuben, schrillen Boutiquen und Pornokinos auf der Joachimsthaler Straße. Ohne ihr Ziel zu thematisieren näherten sie sich langsam dem Bahnhof Zoo. Anna folgte bereitwillig Michaels einladender Handbewegung und ging in Richtung der Bahnsteige im Obergeschoss.

      Die S-Bahn schob sich quietschend über die metallene Hochbahntrasse. Anna war klar, dass Michael sie mit einem originellen Ausflugsziel beeindrucken wollte. Und sie begriff schnell, wohin die kleine Reise führen sollte. Doch sie machte das Spiel mit und thematisierte nicht die Richtung in die der Zug steuerte. Währenddessen versuchte Michael so unverfänglich und zugleich charmant wie möglich zu sein. Er erzählte von vermeintlich profanen alltäglichen Details, deren beobachtender Scharfsinn jeden einigermaßen intellektuellen Menschen unterhalten hätte. Nur Anna durchschaute seine Rhetorik.

      „Michael, hör` auf damit.“

      Michael konnte seine Irritation nicht verbergen.

      „Was meinst du?“

      Annas Antwort schnitt wie ein Messer in Michaels Selbstbewusstsein.

      „Hör` auf zu versuchen mich zu beeindrucken.“

      Michaels Redefluss stockte. Sein Herzschlag beschleunigte die Frequenz. Als würde sie es spüren, blieb ihr Blick unverhohlen auf ihn gerichtet. Unterstützt von einem langsam sich abzeichnenden Lächeln, legte sie langsam ihre Beine übereinander. Es entstand eine Kunstpause, die die Wirkung ihres letzten Satzes in nahezu unübersehbaren Lettern vor ihr schweben ließ. Anna untermauerte ihren nächsten Satz mit einem reizenden Hochziehen ihrer Augenbrauen.

      „Außerdem müssen wir ohnehin gleich aussteigen.“

      Michael fühlte sich gleich doppelt ertappt. Anna hatte seine intellektuelle Koketterie aufgedeckt und zugleich völlig unbeeindruckt sein bislang geheim gehaltenes Ziel sicher entlarvt. Annas Tonfall wurde versöhnlicher.

      „Ich finde deine Idee übrigens sehr süß.“

      Ihr anhaltender Fokus in seine Augen durchbrach den Moment der üblichen Diskretion. Michael grinste verlegen. Die Angespanntheit der letzten Sekunden löste sich wieder aus Michaels Körper. Sein Blick blieb hilfesuchend auf ihre braunen Augen gerichtet. Er spürte ihre warme Hand auf seinem Knie. War dies bereits die bestätigende Antwort auf sein Verlangen nach ihr? Michael traute sich noch nicht, sich dem aufsteigenden Glücksgefühl hinzugeben. Zu stark war sein Bedürfnis nach dieser Berührung und die Hoffnung auf mehr. Das Gefühl der Überraschung überdeckte für einen kurzen Moment seinen Wunschgedanken.

      Durch die Lautsprecher der S-Bahn ertönte eine Durchsage: „Reisende und Tagesbesucher nach Ost-Berlin werden gebeten, an der nächsten Station auszusteigen. Nächster Halt — Bahnhof Friedrichstraße.“

      Das Bremsen brachte die Bahn zum Zittern. Es war nicht nur die abrupte Verringerung der Geschwindigkeit, die Annas Griff fester um sein Knie fassen ließ. Das Quietschen verdichtete sich zu einem alles dominierenden Schreien in dem Fahrgastraum. Michael spürte ein Zittern in sich aufsteigen.

      Noch bevor der Zug zum Stillstand kam, standen die Fahrgäste auf und gingen in Richtung der Türen. Nur Anna und Michael blieben für einen