Absender Ost-Berlin. Thomas Pohl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Pohl
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347069398
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dieser Mann weder mein Onkel war, noch dass ich Lust hatte, mit ihm in Frankfurt auszusteigen. Das wollte ich doch schließlich alleine tun. Das war der Plan. Doch die Erwachsenen schienen von ihrem Vorhaben nicht abrücken zu wollen. Soviel war klar.

      Der Zug fuhr langsam und quietschend in den Frankfurter Hauptbahnhof ein. Ich reckte meinen Hals. Die Züge interessierten mich. Manchmal konnte man hier noch eine alte Dampflock sehen. Die meisten Loks fuhren ja mit Elektrizität. Nur wenige Male kam noch so ein dampfendes Ungetüm in den Bahnhof hereingefahren. Blies seinen Qualm bis unter das hohe Dach, durch das bei Regen das Wasser bis auf die Bahnsteige tropfte. Nur heute leider nicht.

      Ich stieg auf, so wie ich es mit meinen Eltern zuvor besprochen hatte. Schaute noch kurz aus dem Fenster, ob bereits mein Vater in Sichtweite stand. Hoffte, dass der „Onkel“ mich irgendwie aus den Augen verlieren würde. Doch dieser schien seinen selbstauferlegten Auftrag durchaus ernst zu nehmen. Der Bahnsteig war nicht sonderlich mit Reisenden gefüllt und da sah ich auch schon den hellen Trenchcoat meines Vaters. Mit schnellen Schritten ging ich auf ihn zu. Schaute in das vertraute Lächeln. Eine Umarmung blieb wie üblich aus. Mein Vater nahm schnell den Mann wahr, der mir folgte. Sein Lächeln verwandelte sich in einen ernsten Ausdruck. Der „Onkel“ redete mit vielen Worten auf ihn ein. Es war ein Wortschwall an Vorwürfen und Anschuldigungen. Doch mein Vater beendete den Monolog auf seine Weise: „Sie können Ihre Kinder ja wie kleine Dackel an der Leine erziehen. Ich tue das nicht.“

      Dann nahm er mich an die Hand und ging in Richtung Ausgang.

      Acht Wochen später saß ich dann tatsächlich alleine im Zug in die DDR. Der Grenzbeamte schaute erstaunlich freundlich auf die Einreiseformulare. Immer wieder blätterte er in den unzähligen Papieren hin und her. Als würde er noch ein einziges Formular vermissen. Doch dann zog er doch seinen Stift. Schrieb auf einige der grau-gelben Zettel ein paar Bemerkungen, sortierte in routinierter Art und Weise die Papiere und reichte sie in meine kleine Kinderhand zurück. „Dann wünsche ich dir noch eine gute Reise.“

      Ich bedankte mich brav und steckte meinen Pass mit den Einreiseformularen zurück in meinen roten Brustbeutel. Meine Hände strichen sicherheitshalber noch einmal über den verschlossenen Reisverschluss. Ich spürte die Fransen an der Unterseite des Brustbeutels. Der Grenzbeamte zog die Abteiltür hinter sich zu, schenkte mir noch einen letzten freundlichen, zugleich verwunderten Blick und setzte seine Kontrollroutine fort. Auf den Gleisen liefen in den gleichen Uniformen noch andere Grenzbeamte umher. Einige von ihnen hatten ihre Maschinengewehre locker um die Schulter gehängt. Die Grenzer machten auf mich nicht den Eindruck, als wären sie sonderlich besorgt, dass jemand illegal in die DDR einreisen würde. Ich wusste, dass die Soldaten bei der Ausreise aus der DDR weitaus sorgfältiger den Zug untersuchten. Für mein Alter wusste ich bereits ziemlich viel über die Grenze, über die DDR und über die BRD, die eigentlich gar nicht BRD hieß. Für dieses Wissen hatte mein Vater gesorgt. Er hatte mir auch genau erklärt, was passieren würde, wenn ich mit dem Zug in die DDR fahren würde. Und mein Vater hatte in jedem Punkt recht behalten. Es lief in jedem Detail genauso ab, wie ich es immer wieder von ihm erklärt bekommen hatte. Selbst das Lächeln des Grenzbeamten hatte mein Vater vorhergesagt.

      Der Zug machte einen kurzen Ruck. Mir war klar, dass dies die Vorankündigung für die Abfahrt sein würde. Die Grenzbeamten hatten inzwischen den Zug verlassen und trotteten zurück in ihre Barracken. Der westdeutsche Schaffner ging durch den Gang an meinem Abteil vorbei, schaute mich lächelnd an, so wie er es seit seiner Abfahrt in Frankfurt schon so häufig getan hatte. Die nächste Station würde Eisenach sein. Das vorläufige Ende meiner Reise.

      Das erste, was ich auf den nächsten Kilometern wahrnahm, war der Geruch der DDR. Er drang erstaunlich schnell in das verschlossene Abteil. Erst Jahre später wurde mir klar, dass das die verbrannte Braunkohle in der Luft war, die ihren grauen Dunst über das ganze Land legte. Für mich war nicht nachvollziehbar, warum so viele Erwachsene so schlecht über dieses andere Deutschland sprachen. Ich hätte gerne eines der leuchtend blauen Halstücher getragen, wäre gerne mitmarschiert bei den farbenfrohen Paraden zum Ersten Mai. Ich trank gerne diese pinkfarbene Brause. Und das Sandmännchen war sowieso viel besser als das des Westfernsehens. Deshalb empfand ich den Braunkohlegeruch nicht als Gestank, sondern als ein Indiz. Ein Indiz für eine Umgebung, die einfach anders roch, anders aussah und in der man einfach anders lebte.

      Anna war sprachlos. Ihr Blick wandte sich von den Fahrzeugscheinwerfern beleuchtenden, vorbei huschenden Leitplanken auf Michael. Die Autos auf der Gegenfahrbahn blitzten im Gegenlicht und unterstrichen die Silhouette seiner markanten Gesichtszüge. Michaels Augen blieben konzentriert nach vorne gerichtet und bemerkten Annas Nachdenklichkeit nicht.

      Sie hatten inzwischen seit einiger Zeit die ostdeutsche Grenzkontrolle für Transitreisende hinter sich. Mit exakt 100 Stundenkilometern steuerte Michael den Wagen über die das Fahrwerk zum Pulsieren bringende Betonpiste. Die Sonne hatte sich inzwischen völlig zurückgezogen und die Nacht tauchte den Himmel in ein tiefes Schwarz, das von keinerlei künstlicher Beleuchtung erhellt wurde. Von Zeit zu Zeit konnte man am Horizont einen kleinen Ort erahnen, dessen winzig funkelnden Lichter kaum durch die tiefe Dunkelheit dringen konnten. Im Kegel des Scheinwerferlichtes rumpelten die beiden durch die nächtliche DDR.

      Michaels Geschichte hinterließ eine Stille im Auto, die zwischen dem Paar nicht häufig auftrat. Bis ihn Anna bat, noch mehr aus seiner Kindheit zu erzählen. Eine Geschichte, in der er bereits älter war. Eine Episode mit seinem Vater. Über die Grenze. Und Michael ließ sich nicht zweimal bitten.

      „Nachts hören wir manchmal die Selbstschussanlagen. Dann wissen wir, dass die Hasen über den Todesstreifen hoppeln.“ Der Mann erzählte das mit einer eigenartigen Selbstverständlichkeit. Ich dachte an die Hasen und mir lag die Frage auf der Zunge, ob sie dies überlebten. Doch ich wusste, dass ich mich mit dieser Frage jetzt zurückhalten musste. Das würde ich auf der Rückfahrt meinen Vater fragen, wenn dieser seine Reportage beendet haben würde. Auf dem Tisch lag ein kleines Diktiergerät und nahm jeden Satz des Gespräches auf. Er fragte nach. Es ging um die Grenzposten. Um die Zeit vor dem Mauerbau. Mein Vater konnte gut fragen. Fühlte sich in seine Gesprächspartner ein und beflügelte damit ihren Redefluss. Er war bekannt für seine detaillierten Recherchen und anerkannt unter seinen journalistischen Kollegen. Nicht umsonst nannten sie ihn Ludwig Wiesner, den Grenzgänger.

      Der Mann hatte Vertrauen zu meinem Vater gefasst. Er sprach mit ihm, als würden sie sich schon ewig kennen. Zuvor waren wir von außen um das Haus gegangen. Mein Vater hatte fotografiert. Dann zeigte der Mann auf die zugemauerten Fenster auf der Hausseite, die der Zonengrenze zugewandt waren.

      „Genau genommen dürfen wir diesen Teil des Hauses nicht betreten.“

      Auf das fragende „Wieso“ meines Vaters erklärte der Mann weiter, dass dieser Teil des Hauses bereits auf DDR-Gebiet stand. Doch die Grenzziehung sei damals „großzügig“ in einem Bogen um das Haus herum gebaut worden. Ich hatte jetzt am Küchentisch immer noch das Bild vor Augen, das sich uns von außen offenbarte. Das Haus, das an den Hang der steilen Anhöhe gebaut war. Ähnlich der Bilder, die man aus alten Dokumentarfilmen kannte. Als in Berlin reihenweise Fenster von Wohnhäusern zugemauert wurden, deren Rückseiten West-Berlin zugewandt waren. Doch hier sah es anders aus. Hier stand dieses kleine Haus völlig alleine in der Wildnis, weit weg von Berlin auf der innerdeutschen Grenze. Über dem Anwesen erstreckte sich ein Berg, der drohend über dem Grundstück lag. Der an den Betonpfeilern befestigte Maschendrahtzaun, sich so indiskret an das Haus schmiegend, glich übergroßen Fingern, die nach dem Gebäude griffen. Und dicht dahinter lagen die Selbstschussanlagen, die in fünf Meter Entfernung ihre trichterartigen Öffnungen parallel auf den Bereich hinter dem Zaun richteten. Weiter oben auf der Anhöhe stand ein Wachturm. Er war noch einer der ersten Generation. Der eckige Ausguck thronte auf einer runden Betonsäule in der offenbar eine steile Leiter nach oben führen musste. Das Design des Turmes war so eigenartig wie auffällig. Ganz auf die Funktionalität der Überwachung ausgerichtet. Kaum hatte mein Vater seine Kamera gezückt, hatten sich die beiden Grenzposten auf ihrem Hochstand nach unten geduckt. Für diese Fälle waren wohl die kleinen Öffnungen unterhalb der Fenster des Wachturms vorgesehen. Durch diese würden die Grenzposten sie jetzt sicherlich im Augenmerk haben.

      „Die ducken sich immer, wenn sie das Gefühl haben, selbst