Absender Ost-Berlin. Thomas Pohl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Pohl
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347069398
Скачать книгу
ihre Sinne nicht. Sie waren gefangen. Gefangen voneinander und nicht bereit loszulassen. Und selbst als sich die Türen mit dem lauten Pressluftgeräusch öffneten und die Reisenden auf den Bahnsteig trieben, waren Anna und Michael nur zu einem fähig: Zu ihrem ersten Kuss.

       5. Alexanderplatz

      Das Eis schmeckte bei weitem nicht so gut wie im Westen. Es war schlecht gekühlt, viel zu süß, entbehrte jeglicher Geschmacksherkunft und tropfte aus der Waffel. Und doch aßen Anna und Michael bereits ihre zweite Portion. Die Schlange vor dem einzigen Eisstand am Alexanderplatz war inzwischen viele Meter lang. Doch die Menschen genossen geduldig die warmen Sonnenstrahlen unter dem wolkenlosen Himmel von Ost-Berlin. Der Sozialismus zeigte sich von seiner besten Seite. Auch Anna und Michael hatten sich bereits ein zweites Mal in der langen Reihe angestellt. Die Warterei machte auch ihnen nichts aus. Sie hatten alle Zeit der Welt. Selbst die Weltzeituhr unter dem Alex schien sich im Rhythmus ihres Herzschlages zu drehen.

      „Wie bist du auf die Idee gekommen, mich hierher zu entführen?“ fragte Anna. Wohlweislich den Begriff der Entführung wiederholend. Sie hatte ihren Kopf auf Michaels Schulter gelehnt und schaute den Ostberliner Funkturm von unten an. Die silbrige Oberfläche glänzte vor dem wolkenlosen Maihimmel.

      „Ich bin gerne hier.“

      Nach einer kurzen Pause in der Michael versuchte sein inzwischen weichgewordenes Eis, komplett in den Mund zu stopfen, fuhr er fort: „… schon als Kind.“

      Anna hob leicht verwundert ihren Kopf von seiner Schulter: „Als Kind? Wie geht das? Du bist doch nicht hier in der DDR aufgewachsen?“

      „Doch, irgendwie schon.“

      Annas irritierter Gesichtsausdruck ließ ihn lächeln. Er nutzte das Gegenlicht, um sein linkes Auge charmant zu zukneifen. Annas Blick wurde etwas ernster.

      „Spielst du wieder dein rhetorisches Spielchen?“

      Michaels Kopfschütteln vertrieb zugleich das Lächeln aus seinen Mundwinkeln.

      „Nein, nein, keine Sorge. Ich bin ganz bei dir.“

      Er richtete seinen Blick in Richtung des plätschernden Neptunbrunnens. Auch dort saßen die Menschen entspannt auf der Sitzfläche der Sandsteinumrandung. Kinder liefen umher und bespritzten sich mit Wasser.

      „Als Kind war ich oft in der DDR. Zu Besuch. Ich mochte es hier. Und das hat sich nicht geändert.“

      „Weil du nicht hier sein musstest!“

      „Klar — diese Freiheit hatte ich natürlich. Aber schon als kleiner Junge fand` ich die Jungen Pioniere toll.“

      Anna schaute skeptisch. Doch Michael ließ sich nicht ablenken.

      „Doch wirklich. Später die FDJ. Bei uns im Westen gab es ja so etwas nicht.“

      Annas Blick wurde weicher. Michael spürte ihre innere Zustimmung.

      „Genau hier habe ich gesessen. Mit sechs Jahren zur Erste-Mai-Feier. Mit meiner gesamten Familie. Ich hatte sogar eine rote Nelke an meiner Jeansjacke.“

      Anna lachte leise.

      „Als Westler mit einer roten Nelke …“

      „Mein Vater ist in der DDR aufgewachsen und ging dann in den Westen, als es gerade noch so ging. Wurde so zu einem der vaterlosen Gründerväter der Bundesrepublik. Und doch hat er seine Heimat nie vergessen. Er hat mir viel über dieses Land im Osten erzählt. Er war wie besessen von der Zonengrenze. Im Westen schien er nie wirklich angekommen zu sein. Vielleicht auch ein Grund dafür, dass uns meine Mutter so früh verließ. Zu zweit sind mein Vater und ich an vielen Wochenenden die Grenze entlanggefahren und haben sie genau beobachtet. Den Grenzstreifen, die Selbstschussanlagen, das Verhalten der Grenzsoldaten. Er hat viele Zeitungsartikel darüber geschrieben. Vielleicht hast du sogar etwas von ihm gelesen.“

      Es war kurz still zwischen den beiden. Nur das leise Plätschern der Fontäne und das Getrappel der Schritte auf dem Boden mischte sich mit dem Geplapper der Passanten. Anna brach die Stille: „Schreibt dein Vater immer noch?“

      Michael senkte seinen Blick auf den Betonasphalt. Anna spürte, dass ihm die Antwort auf ihre Frage plötzlich schwerer fiel. Dann hob er seinen Blick in Richtung des leuchtenden Metalls des Fernsehturms.

      „Nein, … er ist tot.“

      Anna spürte ein Räuspern in ihrem Hals: „Wann …“

      Michaels Unterbrechung erfolgte sanft.

      „Noch nicht lange her. Kurz nach meinem Abitur. Er starb an Krebs.“

      Anna legte ihren Arm um Michael und schwieg.

       6. Genosse Telemann

      „Genosse Telemann?“

      Karl fühlte sich in seinem neuen Ost-Berliner Büro noch wenig heimisch. Ihm war nicht klar, ob er in diesem massiven Stasi-Bau eigene Bilder an die Wände hängen durfte, geschweige denn eigenes Mobiliar mitbringen. Folglich harrte er der Dinge, bis ihn irgendein non-informeller Hinweis innerhalb des Systems diese Frage beantworten würde.

      „Genosse Telemann?“

      Bis dahin würde er wohl oder übel noch auf den nüchternen Einheitsrequisiten ausharren müssen. Zudem gab es in seinem Arbeitsalltag nur wenige Momente, in denen er sich tatsächlich dem undekorierten Ambiente seines kleinen Büros zuwenden konnte.

      „Genosse Telemann?“

      Karl blickte hoch. Er schaute auf den untersetzten Mann, der im Türrahmen seines Büros stand. Sein Haar war streng nach hinten gekämmt. Der Blick nicht minder streng. In der rechten Hand hielt er einen jener grauweißen Umschläge aus schlecht geblichenem Papier. Obwohl Karl sich der Ursache der mangelnden Papierqualität durchaus bewusst war, ließ seine westdeutsche Vergangenheit für einen kurzen Moment das Gefühl einer arroganten Missachtung in ihm aufsteigen. Und zum selben Zeitpunkt verabscheute er sich selbst für diesen primitiven Gedanken. Karl versuchte die Oberflächlichkeit dieses westlichen Gedankengutes aus seinem Gehirn zu verbannen. Doch im gleichen Moment übermannte ihn ein neues abwertendes Gefühl. Es galt der Erscheinung jenes untersetzten Mannes in Uniform, der wie eine lächerliche Imitation seines Chefs aussah. Zu offensichtlich war der Versuch, in die optischen Fußstapfen seines offenkundigen Idols zu treten. Erich Mielke. Selbst der Tonfall orientierte sich an ihm. Karl schüttelte innerlich den Kopf, gemischt mit einer gehörigen Portion Amüsiertheit. Wann nur würden diese staatsfeindlichen Gedanken endlich nicht mehr sein Denken dominieren? Er schüttelte sich, als würden damit seine politischen Zweifel zerstreut.

      Der kleine dicke Eindringling unternahm einen weiteren Versuch der Kontaktaufnahme.

      „Genosse Telemann?“

      „Ja, bitte?“

      „Hab` ich Sie gestört, Genosse Telemann?“

      Das Männlein verlor in seiner Stimmlage an Schärfe. Zu groß schien der Respekt gegenüber Karl zu sein. Vielleicht beruhte die vermeintliche Hochachtung auch nur auf Anordnung seines Vorgesetzten Erich Mielke. Zumindest erschien er mit seinem imitatorischen Auftritt so, als hätte er sein Leben dem Chef der Staatssicherheit gewidmet. Selbst Mielkes Berliner Akzent schien er nachzueifern. Karl musste wieder innerlich lächeln. Nach außen machte seine Mimik jedoch das Spiel mit.

      „Nein, keinesfalls. Ich war nur in Gedanken.“

      „Wegen des neuen Grenzkonzepts oder haben Sie einen neuen Plan bezüglich des Nachrichtenmannes?“

      Ohne die Frage zu beantworten nahm Karl den Umschlag entgegen. Das hatte er als erstes innerhalb dieses Systems gelernt. Schweigen, wenn du nicht reden willst. Eine Tugend, die nur wenige innerhalb dieses Gebäudes mit seinen unübersichtlichen Gängen beherrschten. Karl verstand es, Information pointiert und nur dann an den Mann zu bringen, wenn ihm danach verlangte. Seine Taktik: Wenig reden und damit Aufmerksamkeit erzeugen. Spannung. Und wenn er dann seinen Mund aufmachte, galt ihm die ganze Aufmerksamkeit. Damit schuf er eine Aura um sich, die selbst seine