Absender Ost-Berlin. Thomas Pohl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Pohl
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347069398
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wir aus dem Sichtfeld waren.

      „Kann man die Räume mit den zugemauerten Fenstern betreten?“ Die Frage löste bei dem Mann ein Stuhlrücken in der kleinen Küche aus: „Klar — kommen Sie mit.“

      Wir standen auf und verließen den Raum. Mein Vater und ich folgten dem Mann durch die Wohnung. Am Ende des Flurs wartete eine gewöhnliche Zimmertür auf uns. Ohne dass uns der Mann den Hintergrund dieser Tür erläuterte, war klar, dass sie eine besondere Funktion in diesem Haus hatte. Der Hausherr fingerte ein Schlüsselbund aus seiner Hosentasche. Es dauerte einen Moment, bis er den richtigen Schlüssel unter dem Dutzend zu fassen bekam. Dann hörten wir den hohlen Klang des sich drehenden Schlüssels in dem veralteten Türschloss. Der Mann öffnete die knarrende Tür und ging voran.

      „Wir haben hier drinnen kein Licht. Sie müssen etwas aufpassen.“

      Es dauerte einige Minuten bis sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Der Raum war unmöbliert. In der Ecke stand noch ein alter Besen gegen die Wand gelehnt. Durch die zugemauerten Fenster zeichnete das Tageslicht dünne Streifen entlang der zum Teil unverputzten Fugen. So wirkten die Fenster auf mich wie eine Installation in einer Kunstausstellung. Der Mann bemerkte mein Interesse an den lichteinfallenden Fugen: „Die haben sich damals ziemlich beeilt beim Zumauern der Fenster. Da war nicht viel Zeit für sorgfältiges Arbeiten. Kommen Sie. Da kann man durchschauen.“

      Wir näherten uns mit einem Gefühl des Unbehagens den leuchtenden Schlitzen. Der Hausherr deutete auf einen besonders breiten Spalt: „Hier sieht man am besten.“

      Mein Vater presste als erster seinen Kopf an den Spalt. Sein Auge war zunächst geblendet. Doch dann erkannte er den Zaun. Konnte die Selbstschussanlagen direkt vor sich sehen. Ein leises „Unglaublich!“ huschte über seine Lippen. Hinter dem Todesstreifen verlief ein zwei-streifiger Betonweg. Zwei weitere Grenzsoldaten stiegen gerade aus einem zum Militärjeep umgebauten Trabi. Anscheinend hatte die Anwesenheit eines westdeutschen Fotografen an der Grenze die Aufmerksamkeit bei den Kontrollpunkten ausgelöst. Einer der Soldaten trug ebenfalls eine Kamera mit einem langen Teleobjektiv. Ich hatte inzwischen auch durch einige Lücken in der Mauer gespäht und ebenfalls die Grenzer ausgemacht.

      „Sind inzwischen weitere Grenzsoldaten angekommen?“

      Die Frage des Mannes klang fast ein wenig amüsiert. Als würde er die Vorhersehbarkeit des Militärs belustigend finden. Mein Vater starrte noch immer wie gebannt durch den Mauerschlitz. Seinen Blick weiterhin auf die Abläufe an der Grenze gerichtet, begann er scheinbar zu sich selbst gewandt zu erzählen: „Nicht weit von hier habe ich als kleiner Junge Lebensmittel über die damals noch grüne Grenze geschmuggelt.“

      Eine kurze Pause erfüllte den Raum. Dann fuhr er fort: „Dass das einmal irgendwann so aussehen würde …“

      Der Mann hinter ihm setzte den Satz fort: „… hätte wohl niemand gedacht.“

      Mein Vater trat einen Schritt zurück und schaute den Mann still an.

      „Nein, wirklich nicht.“

      Mir war dieser Blick vertraut. Es war einer dieser stillen Momente, die ich angesichts der Grenze häufig in seiner Gegenwart spürte. Wenn mein Vater mit dem gleichen stolzen Blick wie meine Großmutter über die Hügel des thüringischen Waldes blickte und dem Grenzverlauf mit seinen tiefliegenden Augen folgte. Der gerodete Streifen fraß sich durch die Wälder und hinterließ einen Abdruck in der Landschaft, als wäre er für die Ewigkeit gemacht. Wie ein Zeichen, eigenartig undurchdringlich. Und jetzt standen wir genau genommen auf dem Boden der DDR, starrten durch kleine Schlitze auf dieses eigenartige Bauwerk.

      Mein Vater schien aus seiner Trance aufzuwachen.

      „Ich würde gerne ein Bild von Ihnen vor diesen Mauerschlitzen machen. Das könnte vielleicht sogar das Titelbild des Artikels werden. Wären Sie damit einverstanden?“

      Der Hausherr zuckte mit den Achseln und steckte seine Hände in seine Hosentaschen, als wäre er an dieser Sache gänzlich unbeteiligt.

      „Klar — machen Sie nur.“

      Annas Hand kraulte immer noch liebevoll Michaels Nacken. Hinter ihnen färbte sich bereits der Himmel zu einem zarten Rosa der Morgenröte. Vor ihnen leuchtete die unübersehbare, neon-farbene Reklamebeleuchtung einer Autobahntankstelle. Der glatte Straßenuntergrund ließ ihr Fahrzeug inzwischen wieder nahezu geräuschlos über die Fahrbahn gleiten. Der Westen hatte sie zurück.

      „Wie lange brauchen wir noch?“ Anna gähnte.

      „Versuch noch ein bisschen zu schlafen. Bis Bonn sind es noch zwei Stunden.“

       12. Bonner Presseball

      „Sie studieren in Berlin? Welches Fachgebiet?“

      „Politologie. Im Moment mit dem Fokus auf die Abrüstungsverhandlungen der S.T.A.R.T.-Verträge.“

      „Heikles Thema. Und so aktuell. Noch einen Champagner?“

      Anna drehte sich etwas hilfesuchend nach Michael um. Er war immer noch nicht von der Toilette zurück.

      „Keine Sorge. Ihr Begleiter hat bestimmt nichts dagegen. Sie sind in guter Gesellschaft.“

      Anna waren die Gesichter der sie umgebenden Politiker wohl bekannt. Sie kannte ihre Biografie und die Anzahl ihrer Geliebten. Untersetzt und übergewichtig umringten sie die attraktive junge Frau. Vertrauend auf den Sexappeal ihrer Popularität.

      „Eine Zigarette?“

      „Danke, ich rauche nicht.“

      „Das sollten sie sich hier aber schnellstens angewöhnen.“

      Anna fing das joviale Lachen der Männer wohlwollend auf. Ließ die verstohlenen Blicke auf ihr Dekolleté gewähren. Die Männer merkten nicht ihre innere Distanziertheit. Zu sehr waren die Herren mit sich, ihrem Trieb und ihrer Eitelkeit beschäftigt. Anna sezierte jede Nuance ihrer Bewegungen. Entdeckte das leichte Zucken im linken Auge des Dicken rechts neben ihr. Beobachtete das herzinfarkt-gefährdete Atmen des Glatzköpfigen. Selbst was die Hand des Mannes zur Linken in der Hosentasche mit seinen Genitalien anstellte, blieb ihr nicht verborgen. Sollte Bonn irgendwann nicht mehr Hauptstadt sein, so würde das Prostitutionsgewerbe am meisten darunter leiden. Soviel wurde Anna in diesem Moment klar.

      „Sie entschuldigen. Ich sehe gerade einen guten Bekannten. Es war nett, Sie kennenzulernen.“

      Die Männer öffneten etwas widerwillig den Halbkreis. Jedoch nicht ohne ein heuchlerisch freundliches Lächeln aufzusetzen. Anna trat durch die sich öffnende Gasse. Der Mann der ihr entgegenkam, fiel nicht nur durch seinen schäbig wirkenden Anzug in dem Umfeld maßgeschneiderter Smokings auf. Der ausgebeulte Sakko passte bei genauerer Betrachtung so gar nicht zu der vermeintlichen Anzugshose, deren Hosenbeine überlang auf den ausgetretenen Schuhen Falten schlugen. Sein volles Haar — seit gut zwei Monaten Friseur-überfällig — war ungeschickt zu einem breiten Seitenscheitel zurückgekämmt.

      „Hast du Michael gesehen?“

      Michaels Hände bildeten unter dem laufenden Wasserhahn eine kleine Schale. Wieder und wieder schlug er sich das kühlende Wasser in sein überhitztes Gesicht. Doch die Hitze wollte einfach nicht aus seinem Körper weichen. Michael bemerkte die Tropfen auf seinem Jackett, griff auf den Stapel bereitliegender Frotteetücher und rieb sie trocken. Mit einem weiteren Handtuch trocknete er die Wasserspritzer auf seiner Hose. Der Schlips und das zugeknöpfte Hemd ließen ihn kaum atmen. Michael betrachtete sein ungewohntes Erscheinungsbild in dem übergroßen Spiegel des Waschraumes. Er war sich nicht sicher, ob ihm das gefiel, was er vor sich sah. Aus seiner rechten Hosentasche fingerte er ein gefaltetes Papier, dessen Schreibmaschinentext durch die vielen handschriftlichen Ergänzungen kaum noch zu entziffern war. Sein Blick wechselte zwischen seinem Spiegelbild und den unlesbaren Zeilen in seiner Hand.

      „Meine sehr verehrten Damen und Herren. Sehr geehrter Dr. Kohl, sehr verehrte Frau Kohl, Herr Bundespräsident, verehrte Gäste. Dieses Jahr hat der Bundespresseball …“

      Michael stockte. Seine freie Hand griff an den Knoten