Absender Ost-Berlin. Thomas Pohl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Pohl
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347069398
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den Milliardenkredit mit Franz-Josef Strauß war ein echter Glücksgriff. Eine bessere Steilvorlage konnten Sie Honecker kaum geben. Auch wenn wir wegen Ihnen unsere schönen Selbstschussanlagen an der Grenze abbauen mussten.“

      Mielke unterbrach seinen Monolog mit einem kehligen Lacher. Dann wurde er wieder ernst.

      „Leute von Ihrem Schlag brauchen wir mehr in unserem Ministerium.“

      Karl spürte, dass er etwas darauf sagen musste.

      „Danke.“

      Gleichzeitig ärgerte er sich über seine Wortwiederholung.

      „Hören Sie auf sich ständig zu bedanken. Das passt nicht zu Ihnen. Telemann, ich will, dass Sie mir zukünftig direkt Bericht erstatten.“

      „Danke … äh … ich meine natürlich … sehr gerne.“

      Mielke blieb stehen und schaute Karl für einen Moment tief in die Augen. Karl wusste nicht, ob er dem Blick ausweichen sollte. Gerade als er seinen Kopf abwenden wollte, unterbrach Mielke die Sprechpause.

      „Haben Sie sich eigentlich Ihren neuen Namen bei uns selbst ausgedacht — Telemann?“

      Karls Antwort kam unerwartet präzise.

      „Nein, ganz bestimmt nicht.“

      Diesmal war es Mielke, der dem Blick auswich. Sich zu der Gruppe wendend rief er mit seinem dominanten Duktus:

      „Ich glaube, wir haben jetzt alle Hunger!“

      Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Mielke wieder im Mittelpunkt der Gruppe durch den Wald stolzierte.

      Karl hatte sich in der hinteren Reihe eingeordnet. Die Sonne schimmerte von Zeit zu Zeit zwischen den Blättern des dichten Waldes hindurch. Er trabte still hinter den anderen Jägern hinterher, als eine weibliche Stimme ihn aus seinen Gedanken riss:

      „War das Ihr Ritterschlag?“

      Er wich der Frage aus und reichte der Frau seine Hand.

      „Karl Telemann. Angenehm.“

      „Ich weiß. Nur das ist nicht die Antwort auf meine Frage.“

      „Mein Ritterschlag? Vielleicht, ja, irgendwie schon.“ Er hatte die Frau bislang nicht bemerkt. Zugleich fühlte er sich überrumpelt und ärgerte sich über seine unkontrollierte Offenheit. Doch die Stimme der Frau hatte etwas Beruhigendes. Einen Tonfall, den er lange nicht mehr im Ohr hatte. Karl schaute ihr ins Gesicht und blickte in zwei dunkelbraune, dezent geschminkte Augen. Sie glänzten im männlichen Umfeld der Jagdgesellschaft.

      „Karl Telemann. Innere Sicherheit — Abteilung …“ Weiter kam er nicht.

      „Ich weiß. Wenn der Chef das weiß, dann wissen das alle hier.“

      Karl kam sich wie ein dummer Schuljunge vor.

      „Marlene Wittmann. Ich gehöre auch zu diesem Verein.“

      Karl lächelte. Innerlich amüsierte ihn die Bezeichnung weit mehr, als er es nach außen hin zugab.

      Mit einem Ruck hielt die Jagdgesellschaft kurz vor einer Lichtung an. Die Blicke richteten sich in eine neue Richtung. Unvermittelt begannen die Männer enthusiastisch zu winken. Als selbst Marlene neben ihm ihre Hand nach oben reckte, folgte Karl dem choreografierten Rudelverhalten. Trotz seiner langen Statur konnte er aus der hinteren Reihe nicht erkennen, wem oder was dort eigentlich gewunken wurde. Aber es erschien ihm besser, dem allgemeinen Treiben zu folgen und erst hinterher nachzufragen. Das Rauschen des Waldes wurde durch ein tief frequentes Brummen gestört. Der Klang des entfernten Motors passte so gar nicht zum Zweittakt-Gestotter der üblichen DDR-Fahrzeuge. Als ein Range Rover an ihnen über den breiten Waldweg vorbei rauschte, fuhr es Karl spontan über die Lippen:

      „Westbesuch?“

      Marlene drehte sich Karl zu.

      „Nein! Der Staatsratsvorsitzende!“

      Karl stutzte.

      „Erich Honecker?“

      Sein Blick folgte dem inzwischen hinter einer Kurve im Wald verschwundenen britischen Geländewagen.

      „In einem Range Rover?“

      Marlene ließ den Abstand zu den Vordermännern etwas größer werden, bevor sie leise antwortete.

      „Wir sind alle gleich hier, aber manche sind nun einmal etwas gleicher.“

       3. Anna

      „Herrschaften, ich möchte Sie bitten, den S.T.A.R.T.-Abrüstungsvertrag zur Verminderung der strategischen Atomraketen bis zum nächsten Mal zu lesen — wenigstens zu überfliegen.“

      Der Kopf des Professors senkte sich. Der alternde Mann schaute über seine Lesebrille in Richtung der sich meldenden Hand auf der rechten Seite des Hörsaals.

      „Ja, bitte?“

      Die hölzernen Klappstühle des Auditoriums waren noch nicht einmal zur Hälfte besetzt. Die Augen der Studierenden folgten unwillkürlich dem Blick des Professors. Die Blickrichtung bot eine besonders attraktive Aussicht. Vielleicht hatte sie ihren Arm ein wenig zu hoch nach oben gestreckt. Vielleicht war es auch die Haltung ihres Oberkörpers. Es vermittelte den Eindruck von Übermotiviertheit. Mag sein, dass dies der Auslöser dafür war, bei Michael das Gefühl von Argwohn in sich aufsteigen zu lassen.

      „Streberin.“

      Das Urteil über die gut aussehende Studentin nuschelte Michael kaum hörbar vor sich hin. Selbst wenn er seine Beschimpfung lauter ausgesprochen hätte, wahrgenommen hätte sie hier wohl niemand. Dafür war die Erscheinung der jungen Frau in diesem politischen Seminar viel zu schillernd. Und vielleicht war es auch genau diese kollektive Aufmerksamkeit, die Michael in diesem Moment so missfiel. Ihr Name war Anna. Das wussten wahrscheinlich alle in diesem Hörsaal. Michael kannte ihren Namen bereits seit der ersten Vorlesung, in der er sie gesehen hatte. Er hatte heimlich auf ihren Ordner geschielt. Anna Blaschke. Anna strich mit der rechten Hand ihr langes Haar hinter ihr Ohr, bevor sie zu ihrer Frage ansetzte. Das tat sie immer so. Immer wenn sie tief Luft holte, sich ihr Oberkörper luftholend wölbte und ihre etwas zu tiefe Stimme den Raum zum Klingen brachte. Zwischen ihr und den anderen Kommilitonen war immer mindestens ein Sitz frei. Als würde ihre Aura die Anderen auf Distanz halten.

      „Ich habe eine Frage zur militärischen Strategie der Verhandlungen.“

      „Na, dann mal raus damit“, sagte der Professor.

      „Liegt bei diesen Abrüstungsverhandlungen nicht der Verdacht nahe, dass die USA damit nur ihre veralteten Waffensysteme entsorgen will?“

      Die Antwort des Professors erfolgte prompt.

      „Frau Blaschke, ich denke, Sie greifen da etwas vorweg. Lassen Sie uns doch erst einmal den Vertrag an sich diskutieren. Eins nach dem anderen.“

      Der Professor wandte sich auf die andere Seite des Hörsaals:

      „Ja, bitte?“

      Michael hatte sich gemeldet. Mit einem Kopfnicken erteilte ihm der Professor das Wort.

      „Schon möglich, dass die amerikanischen Atomraketen der Minuteman II als veraltet tituliert werden. Klar ist aber auch, dass dieser Raketentypus technologisch auf dem gleichen Stand des größten Teils des sowjetischen Arsenals ist. Insofern wäre das ein atomares Abrüsten auf Augenhöhe.“

      Der Professor atmete hörbar aus und verschränkte seine Arme. Lautlos bewegte er seine Lippen. Ein innerer Monolog, den das Auditorium nicht hören sollte. Erst dann wurde er laut.

      „Ihr Hintergrundwissen in allen Ehren, Herrschaften. Das ist jetzt noch nicht das Thema. Für alle anderen gilt: Lesen Sie sich bitte bis zur nächsten Woche in die Verträge ein. Vielen Dank.“

      Daraufhin schritt der Professor hinter sein Podium, schaltete den Overheadprojektor aus und steckte seine Unterlagen in seine Aktentasche. Die Aufbruchsstimmung unter den Studenten erzeugte im Auditorium das