Die Sprache der Blumen. Sven Haupt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sven Haupt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783947721450
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gequälter Ausdruck zog über ihr Gesicht. Sie sah in den grünen, blühenden Himmel empor.

      „Aber es ist doch ein Wald“, flüsterte sie. „Ein seltsamer Wald, aber dennoch ein Wald. Niemand baut Wälder. Sie entstehen und wachsen doch … natürlich.“

      „So natürlich wie Kleiderbäume?“, fragte George unschuldig.

      Lilian krauste die Stirn.

      „Also ein Beweis ist das trotzdem nicht.“

      „Nein?“, fragte George. „Den meisten würde es als Beweis reichen, aber vielleicht ist das auch mehr eine Logik für Affen.“

      Er steckte sich das letzte Stück Banane in den Mund und warf die Schale so flink, dass Lilian kaum die Bewegung sah. Hinter ihr fiepte es verblüfft auf und der kleine Flatterball stürzte, in eine leere Bananenschale verheddert, zu Boden. Er schlug hektisch mit den Flügeln und versuchte laut pfeifend wieder in die Luft zu kommen, aber der Affe war schon über ihm und hob das zappelnde Wesen mit einem sicheren Griff vom Boden auf.

      „Warum hast du das gemacht?“, rief Lilian erschrocken. „Er hat dir doch überhaupt nichts getan.“

      „Er nervt“, kommentierte der Affe. „Ich habe schon für weniger mit Obst geworfen. Aber das ist nicht der Punkt. Sieh her!“

      Er drehte das kleine Wesen um und fixierte einen der Flügel zwischen zwei Fingern.

      „Was soll das, du tust ihm weh!“, rief Lilian aufgebracht.

      „Es ist fliegendes Gemüse“, erklärte der Affe. „Entspann‘ dich und sieh hin.“

      Lilian zog düster die Brauen zusammen, musterte aber stumm den Rand des Flügels. Sie stutzte.

      „Zahlen“, flüsterte sie. „Zahlen und Striche.“ Sie starrte den Flügel an.

      „Produktionscode und Seriennummer“, erklärte der Affe und warf den Flatterball mit einer nachlässigen Bewegung über die Schulter. Das Geschöpf raste davon und piepte laute, empört klingende Tonfolgen. Lilian sah ihm mit offenem Mund nach.

      „Aber wie …?“, begann sie. „Wer …?“

      „Sehr gute Fragen“, kommentierte der Affe. „Lass mich wissen, wenn du Antworten gefunden hast.“

      „Das ist doch nicht möglich“, flüstert Lilian. Der Affe grinste.

      „Ich habe dir doch gesagt, dass es ab hier nur noch seltsamer wird.“

      Als sie wieder auf den Hauptweg traten, drehte sich George einmal flüchtig um sich selbst und wanderte dann in seinem Knöchelgang zügig davon.

      „Ich verstehe wirklich nicht“, rief Lilian ihm hinterher, „wie du es schaffst, dich hier so gut zu orientieren.“

      Ein Schwarm von etwas, das aussah wie gelb pulsierende, schnatternde Ballons zog in Formation an ihnen vorbei und verschwand im Gewimmel der mit Blüten beladenen Lianen, die wie bunte Wasserfälle von den umliegenden Astpfaden herabhingen. „Nicht nur, dass ich nicht weiß wo wir sind oder wohin wir eigentlich gehen, wir könnten schon das dritte Mal im Kreis gelaufen sein, ohne dass ich es auch nur bemerken würde.“

      „Wenn man etwas nur lange genug anstarrt“, murmelte der Affe, „dann findet sich eine Art Ordnung an der Wurzel von jedem Chaos. Manchmal dauert das jedoch verblüffend lange.“ Er wies in eine Richtung, die sich in Lilians Augen durch nichts vom restlichen Grün unterschied. „Siehst du den breiten, länglichen Schatten, der sich dort hinten abzeichnet?“

      Lilian nickte ergeben, obwohl sie nichts sah und George sich nicht einmal nach ihr umdrehte.

      „Das ist der zentrale Stamm. Alle Wege führen dorthin … oder von dort weg. Je nach persönlicher Philosophie.“

      „Stamm?“, fragte Lilian und kniff die Augen zusammen. „Wie ein Baumstamm?“

      „Nicht nur irgendein Baum“, erklärte George. „Der größte Baum. Der einzige Baum. Unser Weltenbaum. Alle Pfade im Wald sind Äste an seinem Stamm. Alle Pflanzen wachsen auf ihm, alles Leben geht auf ihn zurück. Er ist das Zentrum und wacht über alles Leben. Der Kreislauf beginnt und endet mit ihm.“

      „Welcher Kreislauf?“, fragte Lilian verwirrt.

      „Der Affe hob die Hand und zeichnete mit dem Finger einen Kreis in die Luft, während er auf einen Spiralpfad trat und Lilian weiter aufwärts führte.

      „Der große Kreislauf des Werdens und Vergehens. Alle Wesen werden durch sein Wirken, alle vergehen durch ihn und alles Leben kehrt zu ihm zurück.“

      „Werden und Vergehen“, wiederholte Lilian leise. „Und wie kehrt man zurück?“

      „Nun“, erklärte George heiter. „Meistens reicht es, vom Ast zu fallen. Das ist die einfachste Methode.“

      Lilian vermied es, in die Dunkelheit zu sehen, die weit unten in der Tiefe neben dem Pfad auf sie zu lauern schien.

      „Wie weit ist es nach unten?“, fragte sie vorsichtig.

      „Von hier? Etwa zwei Kilometer. Allerdings liegen ziemlich viele Ebenen dazwischen. Du würdest also sehr oft mit einem dicken Astpfad kollidieren.“

      Lilian schauderte.

      „So tief“, flüsterte sie. „Wie groß ist denn der Baum?“ George zögerte einen Moment.

      „Das ist schwer zu sagen. Ohne vernünftiges Werkzeug ist es nicht ganz einfach, präzise Messungen anzustellen. Ich würde sagen, der Stamm ist etwa dreieinhalb bis vier Kilometer hoch und misst ein paar hundert Meter im Durchmesser.“

      Lilian starrte sprachlos nach oben, wo sich in den Lücken zwischen den zahllosen, kreuzenden Astpfaden vage der grüne Himmel des Blätterdachs abzeichnete. Die Krone eines einzigen Baumes. Sie spürte, wie ihr bei dem Gedanken schwindelig wurde.

      „Warst du schon einmal ganz oben?“, fragte sie.

      „Natürlich. Für einen Affen ist das keine große Herausforderung.“

      „Was sieht man“, fragte sie weiter, „wenn man ganz oben ist?“ George schwieg eine Weile, bevor er antwortete.

      „Ganz oben an der Spitze des Stammes ist eine mächtige, geschlossene Blüte. Sie ist sehr groß. Etwa zwanzig Meter hoch.“

      „Und wie sieht sie aus, wenn sie blüht?“

      „Das kann ich dir nicht sagen. Solange ich existiere, war sie immer geschlossen.“

      Sie schwiegen, während sie weiter nach oben liefen. Gelegentlich raschelte es in den Büschen und Bäumen um sie herum und unsichtbare Geschöpfe kommentierten ihr Passieren mit lauten Rufen oder trillerndem Gesang.

      „Kann ich die Blüte sehen?“, fragte Lilian schließlich.

      „Nur wenn du einige hundert Meter lang an dünnen Ästen in die höchsten Ebenen der Krone klettern kannst“, erwiderte George.

      „Kann ich denn nach unten zum Boden klettern?“, fragte Lilian hartnäckig.

      „Warum?“, fragte George zurück. „Irgendwann steht dir diese Reise sowieso bevor. Spätestens, wenn du von deinem Pfad herunter in die Leere trittst. Die meisten Wesen ziehen es jedoch vor, das erst am Ende ihres Lebens zu tun. Der Boden liegt nicht umsonst in Kälte und Dunkelheit. Alles, was verborgen bleiben soll, bleibt dort unten und nur wenige, die die Reise antraten, kehrten zurück.“

      „Warst du schon einmal unten?“, fragte Lilian.

      „Ich ziehe Orte vor, an denen Bananen wachsen.“

      Mit diesen Worten fiel der Affe erneut in Schweigen.

      Lilian brauchte noch eine ganze Weile, bis auch sie den Schatten des Stammes, von dem ihr Gefährte gesprochen hatte, erkennen konnte. Die Entfernung war tatsächlich nicht groß,