Die Sprache der Blumen. Sven Haupt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sven Haupt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783947721450
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schimmernde Tiefe der kleinen Kugel gestarrt. So lange, dass ihm der Schwarm fast noch den Weg nach unten abgeschnitten hätte.

      Diese Begegnung lag nun schon mehrere Monate zurück und seine anfängliche Neugierde entwickelte sich zu einer Obsession. Die schiere Geschwindigkeit des Wachstums der Frucht war atemberaubend. Er sah sich selbst nicht als kleinen Vertreter seiner Art und vor den im Wald lebenden Geschöpfen musste er sich nicht verstecken, aber selbst wenn er sich auf die Hinterbeine stellte und die Arme nach beiden Seiten ausstreckte, konnte er die Frucht schon seit einigen Wochen nicht mehr umfassen.

      Ein Ton, der klang wie ein trauriges Hupen, riss ihn aus seinen Gedanken und er schaute auf. Neben ihm, auf einem kleinen Ast, der sanft unter dem Gewicht wippte, saß ein Flatterball aus blauem Gras. Oder eine geflügelte blaue Blume, je nachdem, welche Perspektive man bevorzugte. Der Schimpanse hielt beim Kauen inne und stöhnte. Die große Kugel war rundherum von kurzen, blauen Blättern bedeckt und klammerte sich mit krallenbewehrten Füßchen, die wie frische grüne Zweige aussahen, an den wippenden Ast. Kleine Augen in Form von rosa Blüten sprossen aus einem knubbeligen Kopf und bewegten sich unabhängig voneinander in alle Richtungen. Den Schnabel bildete ein langer, offener Blütenkelch. Mit ihm konnte das merkwürdige Wesen Früchte vom Baum pflücken, die es dann vollständig hinunterschluckte. Der trompetenförmige Schnabel eignete sich darüber hinaus bestens für das getragene, traurige Hupen, mit dem der Nachtrufer den Untergang der Sonne begrüßte. Als großer Liebhaber des Dämmerlichtes hielt er sich tagsüber mitunter auf den tieferen Ebenen auf. Dazu passte seine Vorliebe für kleine bittere Beeren, welche hier überall wuchsen. Seine vier biegsamen, hellgrünen Flügel lagen nach hinten an den Körper gefaltet und zeigten das feine durchscheinende Adergeflecht junger, grüner Blätter.

      Der Blick des Schimpansen ruhte düster auf dem Geschöpf.

      Es gibt, dachte er, zahllose Möglichkeiten, einen Wald unauffällig und vor allem leise zu bevölkern. Aber nein, stattdessen entwickeln sich zahllose unterschiedliche Arten fliegender Grasbüschel und allesamt sind sie besessen von Uhrzeiten und Ereignissen. Morgenrufer, Abendrufer und Nachtrufer. Außerdem noch Sonnenrufer, Mondrufer und Regenrufer. Er grunzte genervt. Wie wäre es mal mit einem Bananenrufer? Er bemühte sich beständig, seine Gefühle für all diese Wesen möglichst demokratisch unter ihnen aufzuteilen. Er hasste sie alle gleichermaßen.

      Der Nachtrufer hupte eine melancholische Begrüßung in seine Richtung und legte dazu seinen großen Blütenkopf schief. Mit einem seiner Augen schien er sich selbst in den Schnabel schauen zu wollen. Wortlos starrte der Schimpanse ihn an, bog dann einen nahen Zweig weit zurück und ließ los. Der zurückschnellende Zweig traf das Wesen und warf es rückwärts. Der Grasball klammerte sich jedoch fest an den Ast, sodass der Flatterball nun kopfüber nach unten hing. Derweil kaute der Affe gelassen weiter an seiner Banane. Der Nachtrufer trötete eine resignierte Tonfolge und pumpte kurz seinen grasbedeckten Körper auf, sodass er aussah wie ein stacheliger blauer Igel. Seine vier Flügel erwachten sirrend zum Leben und trugen das Geschöpf im Zickzack fliegend durch das Blattwerk davon. Sein trauriges Hupen verklang in einiger Entfernung. Der Schimpanse schloss die Augen und schnaufte.

      Zumindest weiß man immer genau, welche Tageszeit gerade ist.

      Die Morgenrufer hatten ihren Dienst schon lange aufgenommen und ihre Rufe wurden langsam leiser. Vereinzelte Mittagsrufer ließen sich hören, es wurde langsam Zeit für ihn.

      Der Schimpanse zitterte leicht und versuchte die morgendliche Kälte zu ignorieren, die heute nicht weichen wollte. Er mochte die tiefen Ebenen nicht. Die ersten Stunden des Tages waren hier immer unangenehm und trugen oft den Geruch von Regen mit sich. Natürlich regnete es hier nie im eigentlichen Sinne, aber auf den höchsten Ebenen hatten sich heute Nacht die Regenblüten geöffnet und mehrere Stunden lang Wasser in die Tiefe ergossen.

      Noch ein Grund hoch oben zu leben. Man bleibt von Belästigungen wie fallendem Wasser verschont.

      Das Konzert der Regenrufer dauerte oft die ganze Nacht und verstummte erst im frühen Morgengrauen. Wenigstens in dieser Hinsicht hatte er heute Glück gehabt. In seinem Nest in den obersten Wipfeln, ein gutes Stück über den letzten Blüten, machte ihm das Wasser nichts aus. Er hasste Regen fast noch mehr als die Mistviecher, die ihn besangen.

      Sein Blick glitt über das dichte Blätterwerk und er starrte konzentriert in das Chaos aus Licht und Schatten in den unzähligen Variationen von Grün, die ihn auf allen Seiten umgaben.

      Gleich muss es soweit sein.

      Die Sonne blieb hinter dem dichten Blätterdach verborgen, aber wenn jemand so lange im Wald gelebt hatte wie er, dann konnte man sie spüren. Er schob sich das letzte Stück Banane in den Mund und warf die leere Schale achtlos von sich. Sie segelte am Astpfad unter ihm vorbei und verschwand im dichten Blattwerk der unteren Ebenen. Sie würde eine Weile fallen und schließlich auf einem anderen Astpfad landen. Vielleicht trifft sie auch einen der dämlichen Flatterbälle am Kopf, überlegte der Affe. Er spähte noch einen Moment sinnierend in den Abgrund, dann seufzte er, brach noch eine weitere Banane von der Staude und ließ sich mit geschickten Bewegungen langsam auf den Astpfad herab. An dieser Stelle war der Weg breit und vollkommen frei von anderen Gewächsen. Keine der Büsche oder Bäume mit zahlreichen Lianen, die sich sonst an die großen Wege klammerten. Darum kümmerte er sich persönlich. Seit Wochen hatte er das Stück Weg, welches unter der Frucht lag, sorgsam gepflegt

      Der Affe schlenderte, die Banane in der Hand und sich mit der freien Hand am Boden abstützend, langsam zu dem großen Gewächs hinüber. Vorsichtig trat er an die Oberfläche heran und strich mit der Hand sanft über die feste, wächserne Haut. Die Frucht fühlte sich warm an und schien unter der Berührung zu pulsieren. Aber vielleicht bildete er sich das nur ein. Er lehnte sich zur Seite und spähte konzentriert an der massigen Kugel vorbei in das Blätterdach des Waldes über ihm. Er sah Astpfade, die sich in verschiedene Richtungen durch das endlose Grün des Waldes zogen. Manche verliefen horizontal, andere fielen steil zu tieferen Ebenen hinab oder stiegen in Spiralen aufwärts. In der Ferne konnte er den immer präsenten, dunklen Schatten des großen Stammes gerade noch erahnen. Der Affe sah auf und konzentrierte sich auf einen bestimmten Bereich des Blätterdachs, der heller wirkte als der Rest des Waldes.

      Etwa jetzt. Da ist es.

      Ein einzelner Lichtstrahl fiel durch das Blätterdach und landete genau auf der Frucht.

      Der Affe grunzte zufrieden. Es hatte mehrere Tage gedauert, bis er endlich genug Blätter und Zweige abreißen konnte, um diese Lücke zu erzeugen. Er musste sein ganzes geometrisches Wissen nutzen, um den Einfallwinkel der Strahlen richtig zu berechnen. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedachte, dass ihm als einziges Hilfsmittel Zeit und Geduld zur Verfügung standen. Darüber verfügte er allerdings im Übermaß. Er hatte über zwölf Ebenen klettern müssen und war einmal fast von einem der höchsten Äste gestürzt, die ganz oben, nahe dem Rand der Krone, wuchsen. Aber er hatte es geschafft, ein wenig Licht auf diese Ebene zu bekommen.

      Es ist ja auch nicht so, als ob es hier viel anderes zu tun gäbe.

      Der Affe tupfte vorsichtig mit seinem Zeigefinger auf den Lichtfleck. Er musste sich beeilen. Sorgfältig positionierte er sich auf der dem Lichtfleck gegenüberliegenden Seite der Frucht, lehnte vorsichtig sein Gesicht gegen die Schale und spähte aufmerksam in deren Tiefe. Der Lichtfleck auf der anderen Seite erhellte den Innenraum und vage Schemen wurden sichtbar. Der Schimpanse hielt den Atem an und starrte aufmerksam in das Innere. So stand er lange Zeit ganz still, bis die Sonne die kleine Lücke im Blattwerk passiert hatte und der Lichtstrahl verblasste.

      Schließlich nahm der Affe das Gesicht von der Schale und legte dann nachdenklich den Kopf schief. Er hob die freie Hand und sah eine Weile auf seine Knöchel hinab. Er blinzelte einige Male, zuckte mit den Schultern und klopfte zaghaft gegen die Hülle.

      Zunächst geschah nichts, dann bebte die Frucht wie unter einem schweren Schlag. Der Affe riss die Augen auf, starrte seine Hand an und taumelte auf den Hinterbeinen einige Schritte zurück, bevor er sich hinhockte und gebannt die Frucht anstarrte.

      Diese erzitterte ein weiteres Mal und wie auf Befehl senkte sich der Ast,