Die Sprache der Blumen. Sven Haupt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sven Haupt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783947721450
Скачать книгу
sie.

      Der Affe schüttelte nur stumm den Kopf.

      Sie betrachtete ihn eine Weile, dann lächelte sie wieder.

      „Du lässt mich nie aus den Augen und schaust mich immer so neugierig an. Ich glaube, ich nenne dich George.“

      „George!“, rief der Affe entgeistert. „Was ist denn das für ein Name? Wie kommst du denn jetzt auf George?“

      Lilian lächelte entschuldigend.

      „Ich weiß es nicht.“

      Der Affe musterte sie entsetzt, dann schüttelte er erneut den Kopf und erklärte schwach: „Du solltest dich abtrocknen, wir müssen aufbrechen. Der Weg ist lang.“

      Lilian nickte und erhob sich. Mit schnellen Bewegungen trocknete sie sich ab und warf George wortlos das Handtuch zu. Sie ging zu der zweiten Schote hinüber, hob sie vom Boden auf und betrachtete sie eine Weile lang aufmerksam. Schließlich nahm sie die Frucht und rollte sie mit festen Bewegungen einige Male zwischen ihren flachen Händen. Es knackte und knisterte. Danach griff sie die Schote am hinteren Ende und schlug sie zweimal fest in ihre freie Hand. Die Handtuchrolle rutschte mit einem Plopp auf ihre leere Hand. Sie schüttelte das große Handtuch aus, wickelte es sich mit einer eleganten Bewegung um den Körper und faltete den oberen Rand zu einem provisorischen Kleid. Nachdem sie einen Moment lang kritisch darauf hinabgesehen hatte, drehte sie sich probeweise einmal und lächelte den Affen an, der sie mit offenem Mund anstarrte.

      „Ich bin soweit“, verkündete sie.

       #include <LICHT>

      Die kleine, grüne Graskugel schwirrte um Lilians Kopf herum und gab helle, trillernde Töne von sich. Nach einer weiteren Umrundung setzte sie sich auf den Kopf der Frau und faltete die beiden großen, roten Flügel auf dem Rücken zusammen. Sie sahen aus, als wären sie aus zahllosen winzigen Blütenblättern zusammengesetzt. Das kleine Wesen rollte einen langen, dünnen Rüssel aus seinem Blütengesicht und tupfte Lilian damit von oben auf die Nase. Die Frau lachte und verscheuchte den aufdringlichen Gast von seinem Rastplatz. Der kleine Flatterball hob mit einem Fiepen ab, flog einige Meter voraus und begann sich trillernd im Kreis zu drehen.

      „Ich kann nicht glauben“, lachte Lilian, „dass das wirklich alles Pflanzen sind.“

      „Und ich kann nicht glauben“, murrte der Affe, während er auf allen vieren vorausging, „dass eine ganze Gattung derart nutzlos und aufdringlich sein kann.“

      „Gibt es denn verschiedene Arten von diesen fliegenden Blumen?“, fragte Lilian und winkte dem Grasball zu, der begeistert Loopings schlug.

      „Dutzende“, stöhnte George. „Und alle sind sie farbenfroh und nervtötend.“

      „Ich finde sie lustig“, erklärte Lilian.

      „Warte mal ein paar Ewigkeiten“, murmelte George zu sich selbst, „dann lässt das nach.“

      Lilian ließ den Blick über die zahllosen Astpfade schweifen, von denen sie auf allen Seiten umgeben waren. Überall wuchsen Pflanzen auf den schwebenden Wegen oder hingen in dichten Vorhängen davon herab. In ihnen zwitscherte, hupte oder trillerte eine Vielzahl bunter Geschöpfe inmitten nicht weniger bunter Blüten. Manche der breiteren Wege boten Platz für ganze Alleen von Bäumen. Diese wiederum stützten Astpfade darüber und bildeten so einen endloses Wirrwarr aus dicht bevölkerten, sich kreuzenden Wegen, die in einem fort stiegen oder fielen, Spiralen bildeten oder in Kreuzungen zusammenliefen.

      Lilian fühlte sich vollkommen überfordert von dem Meer blühender Pflanzen, das sich in alle Richtungen erstreckte. Sie hatte sofort die Orientierung verloren, während ihr Weggefährte sie kontinuierlich und zielstrebig aufwärts führte, dem Licht entgegen.

      „Ich frage mich“, flüsterte sie leise, „wie all diese Pfade in der Luft bleiben. Sie sind alle irgendwie miteinander verbunden, aber müsste nicht allein ihr eigenes Gewicht alles zum Einsturz bringen?“

      Der Affe sah sie erstaunt an.

      „Das ist eine sehr gute Beobachtung. Die Antwort ist: Ich weiß es nicht. Was ich aber weiß, ist, dass sich die Gravitation auf den Astpfaden nicht ganz so verhält, wie man es erwarten würde. Ich vermute also, dass der Wald stark lokalisierte Kraftfelder generieren kann.“

      Lilian runzelte die Stirn.

      „Was heißt, sie verhält sich anders?“

      „Die Pfade“, erklärte George, „lassen mich stabiler und sicherer laufen, als ich es allein könnte. Es fühlt sich manchmal an, als würde der Weg mich vom Abgrund fortschieben, damit ich nicht falle.“

      Lilian spähte vorsichtig über den Rand des Pfades in den Abgrund hinunter.

      „Das ist irgendwie beruhigend.“

      Sie hatte schon ernsthaft überlegt, wie George auf allen vieren zu laufen. Einige der Wege waren äußerst schmal und wenn sie dicht neben sich in die Tiefe spähte, sah sie nichts außer einem endlosen Chaos sich kreuzender Pfade und weit unten in der Tiefe eine drohende Dunkelheit.

      Sie riss sich von dem Anblick fort.

      „Wo gehen wir überhaupt hin?“

      „Nun“, entgegnete der Affe. „Wenn du nicht für den Rest deiner Tage mit einer Hand das Handtuch festhalten willst, dann sollten wir dir etwas zum Anziehen besorgen.“

      Er deutete auf eine dicht mit Büschen bewachsene Plattform, die etwas abseits am Ende eines leicht abfallenden Spiralpfades neben ihrem Hauptweg hing. Der kleine Flatterball kannte offensichtlich ihr Ziel und war bereits vorausgeflogen.

      „Diese Ecke“, erklärte George, als er sie den Pfad hinabführte, „habe ich schon vor langer Zeit entdeckt. Ich konnte nur nie etwas damit anfangen.“

      Lilian folgte dem Schimpansen durch die dichten Büsche auf eine kleine Lichtung. Dort sah sie sich um und musste unwillkürlich lachen. Um sie herum standen etwa zwanzig kleine, schlanke Bäumchen, die allesamt weiße Kleider trugen. George war an einen der Bäume herangetreten, befühlte fachmännisch den Stoff und erklärte:

      „Ganz gutes Material, aber nicht ganz mein Stil.“

      „Stimmt“, erwiderte Lilian ernst und inspizierte die Bäume. „Vielleicht finden wir später noch etwas Farbenfroheres für dich … mit vielen Blüten.“

      George schnaubte und wandte sich ab.

      „Viel Spaß. Ich bin gerade mal um die Ecke, ich glaube, ich habe aus dem Augenwinkel Bananen erspäht.“

      Lilian grinste und machte sich daran, einen passenden Baum zu finden. Keine zwei der Bäumchen hatten die gleiche Größe und es dauerte eine Weile, bis Lilian ein geeignetes Baumkleid gefunden und geerntet hatte. Der Stoff wurde auf der Innenseite von zahllosen kleinen Ästen in Form gehalten und sie gab sich große Mühe, die Pflanze nicht zu verletzen. Das Kleidungsstück selbst war sehr schlicht gehalten. Eine gerade Röhre aus Stoff mit zwei kurzen Ärmeln. Einfach, aber immer noch besser als ein Handtuch.

      Lilian hatte sich gerade angezogen, als es neben ihr trillerte. Sie drehte sich um und sah die kleine Flatterkugel im leeren Astwerk des Bäumchens sitzen. Sie legte den kleinen Blütenkopf schief und pfiff eine anerkennend klingende Tonfolge.

      „Danke sehr“, erwiderte Lilian und kraulte das kleine Geschöpf mit dem Zeigefinger am Bauch. „Es ist wirklich erstaunlich, was die Natur alles erschaffen kann.“

      „Ich muss dich enttäuschen“, erklang die Stimme des Affen hinter ihr. Er kaute auf einer Banane. „Hier gibt es keine Natur und eine schaffende schon mal gar nicht.“

      „Aber“, entgegnete Lilian, „irgendwo müssen all diese Wesen doch herkommen.“

      „Nun, wer immer es war,