»Wer ist denn hinter Ihnen her?« fragte Mike Rander in sachlichem Ton. Er bekam keine Antwort und drehte sich deshalb sofort zur Wand. Natürlich hätten Parker und er mehr als eine Chance gegen den Mann gehabt. Aber sie wollten es nicht darauf ankommen lassen. Ein verirrter Schuß hätte in dem dicht gefüllten Zuschauerraum zu leicht Unheil anrichten können.
Rander und Parker hörten das Rascheln von Stoff, von der Bühne her drangen wieder spitze Schreie in die Loge, und dann klappte eine Tür. Als Butler Parker in einem erstaunlichen Hechtsatz zur Logentür springen wollte, grinste Mike Rander.
»Meinen Sie, Parker, der Mann hätte die Tür aufgelassen?« fragte er.
»Weshalb regen Sie sich so auf? Ich bin eigentlich sehr froh, daß bei der Gelegenheit Ihre Melone zum Teufel gegangen ist. Hätte der Mann noch etwas gewartet, wäre ihm ’ne Belohnung sicher gewesen.«
»Was hatte dieser Besuch wohl zu bedeuten?« fragte der Butler, der wieder Platz genommen hatte.
»Entweder wollte er seinen alten Mantel gegen einen halbwegs besseren Umtauschen, oder er wurde verfolgt und suchte sich jetzt zu tarnen. Ich glaube mehr an die zweite Möglichkeit.«
»Er hatte es sehr eilig, ins Theater zu kommen«, erinnerte sich der Butler laut. »Wahrscheinlich wurde er wirklich verfolgt. Aber wieso kam der Mann ausgerechnet in unsere Loge?«
»Sehr einfach«, meinte Rander lächelnd. »Unsere Seitenloge hat eigene Garderobe und liegt am Ende des Ganges. Er brauchte also nicht mit Überraschungen zu rechnen, unser Klopfen wird man nicht so schnell hören, und er hat die Möglichkeit, durch die Gangtür hinter die Bühne zu kommen. Von da aus wird er auch verschwinden wollen.«
»Vielleicht sind wir einem Verbrechen auf der Spur«, sagte Butler Parker, und seine sonst ewig vereiste Miene belebte sich etwas bei dieser Aussicht. »Man müßte den Fall näher untersuchen, Mister Rander.«
»Gut, untersuchen Sie den Mantel des Mannes«, sagte Rander. »Aber wahrscheinlich hat er ihn ausgeräumt.«
Würdevoll, mit steifen Bewegungen, ging Parker in den Garderobenteil der Loge und begann den Mantel des Mannes fachmännisch zu durchsuchen. Mike Rander war ihm gefolgt und sah grinsend zu.
»Na, was haben Sie herausgefunden?« fragte Rander, als sein Butler die Taschen durchsucht hatte.
»Dieser Mantel befindet sich in einem ungewöhnlichen Zustand«, erwiderte Butler Parker. »Beide Taschen sind zerrissen und das Futter existierte kaum noch.«
»Schmeißen Sie den Fetzen hin«, sagte Mike Rander. »Mit dem Ding ist ja doch nichts mehr anzufangen.«
»Ich werde meine Hände eine Viertelstunde bürsten müssen«, sagte Josuah Parker und warf den Mantel über eine Sessellehne. »Sie haben recht gehabt, Mister Rander, es war nichts zu find …«
»Was haben Sie denn?« fragte Mike Rander grinsend, als sich der Butler wieder über den Mantel stürzte. Mit spitzen Fingern fühlte er den Saum des Mantels ab.
»Eine Visitenkarte«, sagte Parker, nachdem er das Futter einfach aufgerissen hatte, um an den Gegenstand zu kommen, den er gefühlt hatte.
»Zeigen Sie mal her«, reagierte Mike Rander überrascht. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit einer Visitenkarte. Butler Parker reichte ihm ein Stückchen Karton herüber. Auf der Rückseite der Karte waren ein paar Zahlen aufgekritzelt.
»Tony Glubb, Chicago, Gate Street, 1238«, las Mike Rander laut.
»Dieser Mantel sieht nicht nach der Gate Street aus«, meinte Josuah Parker. »Dort wohnen doch nur Leute, die ein gewisses Einkommen haben.«
»Womöglich hat er sie nur gefunden«, meinte Mike Rander und steckte die Karte ein.
»Sollen wir das Kleidungsstück der Polizei übergeben?« fragte der Butler.
»Während der Pause besorgen Sie ein Stück Papier«, schlug Rander vor. »Das heißt, meinetwegen können Sie sich den Mantel auch anziehen. Vorerst nehmen wir ihn mit nach Hause.«
»Ich werde doch lieber Papier besorgen«, sagte Butler Parker erschreckt.
»Da ist schon die Pause. Wie viele mag man auf der Bühne noch umgebracht haben?«
»Wir fragen den Logenschließer.« Rander lachte. »Wahrscheinlich hat noch ein halbes Dutzend dran glauben müssen.«
Schon nach dem ersten Klopfen wurde die Loge von außen geöffnet. Der Logenschließer stellte keine Fragen, und Butler Parker verschwand, um einen Bogen Papier zu holen.
Mike Rander nutzte die Gelegenheit und erkundigte sich nach den Morden. Er war sehr zufrieden, als Parker zurückkam.
»Wir können beruhigt sein«, sagte er zu Parker und grinste. »Ich habe soeben erfahren, daß der Mann mit dem Schürhaken inzwischen das Zeitliche gesegnet hat. Er wurde erschossen.«
»Wir müssen es glatt überhört haben«, sagte Butler Parker. »Schade, den Genuß hätte ich mir nicht entgehen lassen sollen.«
Sie gingen den Korridor hinunter, bis sie die durchgehende Halle erreicht hatten. Vor dem Ausgang zur Seitenpassage staute sich eine Menge Zuschauer, die laut und erregt diskutierte.
»Was ist denn hier los?« fragte Butler Parker einen Mann, der vor ihm stand. »Werden hier Dollars verteilt?«
»Nicht Dollars, Blei«, erwiderte der Mann. »Man hat einen Mann in der Passage gefunden. Er ist erschossen worden!«
»Bekannter Mann?« fragte Rander.
»Sie sagten draußen gerade, daß er einen dunklen Mantel und eine Melone getragen hat«, gab der Mann bereitwillig Auskunft …
*
»Nehmen wir erst einmal einen Drink«, sagte Mike Rander. »Anschließend lassen wir uns bei Leutnant Handy sehen. Vielleicht erfahren wir von ihm, wer der Tote ist.«
Für Mike Rander und Butler Parker war es aussichtslos, durch die Menge an den Toten heranzukommen. Sie machten kehrt und verließen das Theater durch den Haupteingang. Schräg gegenüber vom Theater war eine Bar, die sie beide anliefen.
»Ihre zweite Möglichkeit ist demnach eingetroffen«, sagte Butler Parker, als die Drinks serviert waren. »Der Mann wurde verfolgt, flüchtete sich ins Theater, wurde aber trotz seiner veränderten Kleidung erkannt und ermordet. Um was mag es gegangen sein? Wer mag der Tote sein?«
»Sie stellen eine Menge Fragen an mich«, sagte Mike Rander grinsend. »Und dabei weiß ich nicht mehr als Sie. Ich nehme an, daß es sich um einen kleinen Gauner gehandelt hat.«
»Sie meinen wegen des Revolvers, den er in der Hand hielt?« sagte Butler Parker.
»Nicht nur wegen des Revolvers«, entgegnete Mike Rander. »Der Mann sprach auch so, fanden Sie das nicht auch, Parker? Die Zeiten werden besser, die Gangster und Gauner bringen sich gegenseitig um.«
»Das sagen Sie als Strafverteidiger?« entrüstete sich der Butler. »Mister Rander, immerhin …«
»Sie wissen doch auch, daß mir dieser Beruf zum Halse heraussteht«, sagte Rander und nahm einen Schluck Whisky. »Wenn etwas an der Sache sein sollte, wollen wir uns dahinterklemmen. Falls Sie keine moralischen Hemmungen haben.«
»Gut, daß wir die Visitenkarte haben«, meinte Butler Parker. »Man sollte diesen Mister Glubb aufsuchen.«
»Dabei wird zwar nicht viel herauskommen«, meinte Rander nachlässig. »Aber versuchen wir’s immerhin. Ich glaube, daß wir zum Stadthaus fahren können. Die Mordkommission ist bereits seit zehn Minuten wieder verschwunden.«
Mike Rander und Butler Parker verließen die Bar, gingen zum Parkplatz des Theaters, und wenige Sekunden später fuhr ein dunkler Studebaker in verwegener Fahrt auf die Straße. Parker liebte es nämlich, etwas schneller als die anderen zu fahren.
»Sie brauchen keineswegs einen neuen Rekord aufzustellen«,