Ohne noch eine Antwort abzuwarten, hatte sie einfach aufgelegt, wie Bettina es von ihrer Schwester gewohnt war.
Sie starrte ihren Telefonhörer an, als könne der ihr eine Antwort geben.
Das war wirklich nicht zu fassen!
Grit konnte gar nicht so betrunken gewesen sein, um vergessen zu haben, wie unglücklich sie am Telefon gewesen war.
Warum konnte sie nicht mehr zu dem, was gewesen war, stehen?
Sie waren schließlich Schwestern und mussten sich gegenseitig doch nichts vormachen.
Sie hätte Grit wirklich gern geholfen, aber das wollte diese offensichtlich nicht. Warum nicht? Weil sie sich keine Blöße geben wollte? Ein solches Denken wäre absoluter kindischer Schwachsinn!
Ihre Freude, Grit könne sich geändert haben, war dahin. Es war nicht mehr gewesen als ein leises Aufflackern, das erloschen war, ehe es zu einer hellen wärmenden Flamme werden konnte.
Schade!
Es wäre so schön gewesen, zu ihrer Schwester wieder ein normales Verhältnis zu bekommen.
Mit Jörg war sie in Frieden, wenn nun auch Grit dazugekommen wäre … wer weiß, vielleicht hätte sich dann auch irgendwann ihr Verhältnis zu ihrem ältesten Bruder Frieder wieder normalisiert.
Aber es sollte wohl nicht sein, und damit musste sie leben, zuerst einmal aber musste sie mit der Enttäuschung fertig werden, die Grits Verhalten in ihr ausgelöst hatte.
Bettina griff nach ihrer Tasche und verließ das Haus. In der Destille wartete viel Arbeit auf sie. Und das war auch gut so.
*
Als Bettina um die Ecke bog, um zu ihrem Auto zu gehen – sie hatte sich auf einen Tee mit Linde verabredet –, sah sie den Mann und erkannte ihn sofort. Dazu hatte sie sein Bild zu oft in den Zeitschriften gesehen, die bei Leni immer herumlagen und die sie dann auch durchblätterte, um zu sehen, was in der Welt der Reichen und Schönen so alles passierte.
Sie stockte, und auch er blieb stehen.
Was wollte er hier, der Herr Steinbrecher?
»Guten Tag«, sagte er höflich, und Bettina registrierte, dass er eine angenehme Stimme hatte.
»Guten Tag«, antwortete Bettina nicht unbedingt freundlich. Nach allem, was sie über ihn wusste, konnte sie einfach nicht freundlich zu ihm sein. Dazu war sie ein viel zu emotionaler Mensch.
Beinahe herausfordernd schaute sie ihn an.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Ihr barscher Tonfall schien ihn ein wenig zu irritieren, doch vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.
»Ja. Ich möchte zu meiner Frau … Dorothea Steinbrecher. Sie hat sich hier eingemietet.«
Bettinas Gedanken überschlugen sich.
Woher wusste er das?
Hatte er das durch einen von ihm beauftragten Detektiv erfahren? Wollte er sie jetzt einfach überfallen und zur Rückkehr zwingen, weil er sie in seinem Betrieb brauchte?
»Woher … woher wollen Sie das wissen?«, rang sie sich schließlich ab.
Er merkte sofort, dass sie ihm nicht wohlgesonnen war und nicht auf seiner Seite stand, dass sein sonst überall wirksamer Charme an ihr abprallte.
Ein leises Lächeln umspielte seinen Mund.
»Ich weiß es von meiner Frau«, antwortete er, »wir sind miteinander verabredet.«
Als er ihren noch immer skeptischen Gesichtsausdruck bemerkte, bot er an: »Sie können sie auf ihrem Handy anrufen … es stimmt wirklich, wir sind miteinander verabredet. Und meine Frau war es, die dieses Treffen wollte.«
Es wäre lächerlich, sich jetzt noch weiter zu sträuben und ihn zu ignorieren.
»Kommen Sie bitte mit, ich zeige Ihnen den Weg zu den Appartements«, sagte Bettina und führte ihn über den Hof.
»Da hinten rechts in dem Haus mit den vor der Eingangstür stehenden Buchsbäumen finden Sie … Frau Steinbrecher.«
Er bedankte sich überschwänglich, aber Bettina ignorierte seine Freundlichkeit. Sie drehte sich abrupt um, um auf den Parkplatz zurückzulaufen, wo sie mit ihm zusammengetroffen war.
Hochzeitstag, fünfundzwanzigsten, also die Silberhochzeit vergessen …
Den fünfzigsten Geburtstag seiner Frau ignoriert …
Das waren Fakten, die zählten!
Sie würde auf seinen aufgesetzten Charme nicht hereinfallen. Hoffentlich ließ die arme Frau Steinbrecher sich nicht von ihm einlullen.
Warum sie ihn wohl, wenn es stimmte, was er da gesagt hatte, zu sich bestellt hatte?
Bettina setzte sich in ihr Auto und gab Gas, so heftig, dass der Motor aufheulte.
Hey, Bettina, beruhigte sie sich selbst, reg dich nicht auf. Es geht dich nichts an. Sie wird tun, was sie für richtig hält.
Gut aussehend war dieser Bursche schon, er sah in Wirklichkeit noch besser aus als man ihn von Fotos her kannte, und ihm war anzusehen, dass ihm das durchaus bewusst war. Wahrscheinlich lagen ihm die Frauen reihenweise zu Füßen, und er genoss wie ein Gockel all die Avancen, die ihm gemacht wurden.
Jan war auch sehr gut aussehend, aber er war ein ganz anderer Typ Mann, auf diesen Horst Steinbrecher wäre sie niemals hereingefallen, er war ihr einfach eine Spur zu smart.
Bettina war unten im Dorf angekommen und lenkte ihr Auto auf den Marktplatz, wo sie es am Seiteneingang des Gasthofs parkte. Dann eilte sie ums Haus und lief die paar Stufen zum Eingang hinauf, der durch diese uralten mächtigen Linden flankiert wurde, die ihm seinen Namen gegeben hatten. Es zeigten sich die ersten zartgrünen Blättchen. Nicht mehr lange, und sie würden in ihrer ganzen Pracht erstrahlen.
Es war noch früh, in der Gaststube befanden sich nur einige Gäste. Auch die Busse, die scharenweise die Leute herankarrten, waren noch nicht da. Aber es war auch noch keine Saison.
Linde saß bereits am Stammtisch und strahlte Bettina an, dann aber erkundigte sie sich sofort: »Was ist los, du machst ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.«
Bettina ließ sich auf einen Stuhl fallen.
»Ich bin oben auf dem Parkplatz mit Horst Steinbrecher zusammengetroffen, der will seine Frau besuchen. Bestimmt will er sie beschwatzen, nach Hause zurückzukommen, weil er seine billige Arbeitskraft zurückhaben will.«
»Oder er hat ganz einfach nur Sehnsucht nach ihr«, wandte Linde ein.
Bettina schnaubte verächtlich.
»Pah, das glaube ich nicht von jemandem, der so wichtige Tage einfach ignoriert.«
»War schon ein starkes Stück«, gab Linde zu, »ich würde mit ihm auch kurzen Prozess machen. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass ein Mann so sein kann. Wenn ich da an Martin denke«, ihre Augen füllten sich mit Tränen, »der hat jeden Tag eine kleine Aufmerksamkeit für mich parat gehabt, und wenn es nur ein Zettelchen mit einer liebevollen Botschaft war, die er mir irgendwohin gelegt hat …« Sie seufzte. »Ich vermisse ihn so sehr … er ist schon so lange tot … welche Freude er doch an Frederic und Amalia gehabt hätte … warum musste ausgerechnet er derjenige sein, den dieser Geisterfahrer mit in den Tod gerissen hat? Warum Martin? Der war ein herzensguter Mensch, der keiner Fliege was zu Leide getan hat, er …«
Beruhigend legte Bettina ihre rechte Hand auf den Arm ihrer Freundin.
Was war los? Warum