Bettina hatte geglaubt, der Schmerz um Martins Tod sei weniger geworden, zumal Linde doch angefangen hatte, sich für Christian, ihren Halbbruder, zu interessieren.
»Du weißt doch, dass Martin dieses Pferdebuch geschrieben hat, nicht wahr?«
Bettina nickte. Martin hatte damit nicht nur in der Fachwelt großen Erfolg gehabt, sondern auch viele interessierte Amateurpferdeliebhaber hatten sich das Buch gekauft.
»Ich habe heute Post von seinem Verlag bekommen … es ist eine weitere Auflage geplant, und die Übersetzungsrechte wurden nach Amerika, Spanien und Italien vergeben … wie stolz es Martin gemacht hätte, wie groß seine Freude gewesen wäre …«
»Wenn sie groß genug sind, wird es Frederic und Amalia stolz machen«, sagte Bettina.
Linde winkte ab.
»Die kennen ihren Vater doch überhaupt nicht, sie waren ja noch nicht einmal auf der Welt, als er starb.«
»Er hat das Babytagebuch geschrieben und darin so vieles von sich preisgegeben, und du wirst die Erinnerung an diesen wunderbaren Menschen schon wachhalten, daran habe ich überhaupt keinen Zweifel.«
Linde wischte sich über die Augen, richtete sich entschlossen auf.
»Entschuldige, ich will nicht jammervoll sein, aber manchmal überkommt es mich einfach, und jetzt ist auch so ein Moment.«
»Du musst dich nicht dafür entschuldigen, dass du an den Menschen denkst, der dir so viel bedeutet hat, Linde«, sagte Bettina behutsam. »Ich muss auch oft an Martin denken, er war für mich ein wunderbarer Freund, und er war ein großartiger Mensch. Und das Leben geht weiter, man darf sich von seiner Trauer nicht überwältigen lassen, sondern den Verstorbenen in liebevoller Erinnerung behalten. Martin hätte es so gewollt, da bin ich mir ganz sicher.«
Linde winkte eine Bedienung herbei, bestellte bei ihr Tee für sich und Bettina.
»Martin hat immer zuerst an mich gedacht«, sagte Linde. »Danach wären die Kinder gekommen, dann vieles andere, und erst zum Schluss hätte er an sich gedacht. So war er nun mal, mein Martin.«
»Apropos Kinder, wo sind die eigentlich?«, wollte Bettina wissen. »Ich würde sie gern sehen, meine beiden Patenkinder.«
»Die sind gerade mit der Kinderfrau draußen, das Wetter ist so schön, da macht sie mit den Kleinen einen langen Spaziergang, ich glaub, sie wollte runter zum See.«
»Vielleicht fahr ich dann auch hin. Ich vermisse die beiden Schätzchen … sie haben sich wirklich prachtvoll entwickelt … ich finde, Frederic hat die Ernsthaftigkeit seines Vaters geerbt und die kleine Amalia sein Aussehen, sie ist ihm wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Linde lächelte. »Ja, das stimmt, aber die Energie, die hat sie von mir, daran gibt es keinen Zweifel.«
Das Telefon klingelte, Linde stand auf, ging zum Tresen, wo das Telefon stand, meldete sich.
Bettina hatte nicht zugehört, aber nur mitbekommen, dass sie zurückrufen würde.
»Es war Christian«, sagte sie, als sie sich wieder setzte und nach ihrer Tasse griff.
»Du hättest mit ihm reden können«, meinte Bettina, »das hätte mich nicht gestört, im Gegenteil, ich hätte ihm auch gern kurz Hallo gesagt, denn wir haben auch schon einige Zeit nichts mehr voneinander gehört.«
Linde winkte ab.
»Wenn du mit ihm reden willst, kannst du ihn jederzeit anrufen, er ist schließlich dein Bruder. Aber mir hätte er angemerkt, dass ich nicht so gut drauf bin. Und wenn ich ihm gesagt hätte, dass ich wegen Martin traurig bin, hätte Christian sich sofort wieder in sein Schneckenhaus zurückgezogen. Du kennst ihn doch.«
»Das heißt also, dass Christian doch eine gewisse Rolle in deinem Leben spielt, sonst könnte es dir ja gleichgültig sein.«
Linde zögerte mit der Antwort.
»Ich mag ihn … manchmal mehr, manchmal weniger. Er ist mir schon vertraut, schließlich war er an meiner Seite, als ich die Zwillinge zur Welt brachte, und er hat sich auch danach unheimlich um mich gekümmert. Es war blöd von mir, ihm zu sagen, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass es mit uns etwas wird. Wenn ich nicht so einen Quatsch gemacht hätte, säße er auf der anderen Seite des Marktplatzes in seiner Arztpraxis und nicht in einem Hospital irgendwo in Malawi … andererseits, wer weiß, wofür es gut ist … es fällt mir, bei aller Sehnsucht nach einer neuen Bindung, einem Mann an meiner Seite, sehr schwer, daran zu denken, dass ein anderer Mann Martins Platz einnehmen könnte.«
»Er würde Martins Platz nicht einnehmen, sondern eine andere Rolle in deinem Leben spielen, Linde. Du kannst die beiden Männer auch überhaupt nicht miteinander vergleichen, dazu sind sie zu verschieden.«
Linde rührte in ihrem Tee herum, was sie immer tat, wenn sie emotional bewegt war.
»Wenn ein anderer Mann, dann Christian«, sagte sie, »aber dennoch macht mich letztlich ein solcher Gedanke panisch. Martin und ich, wir kannten uns unser Leben lang, wir haben schon im Sandkasten zusammen gespielt. Wir wussten alles voneinander, der eine musste nichts aussprechen, weil der andere bereits ahnte, was er wollte … Christian … ich kenne ihn doch überhaupt nicht.«
»Du wirst ihn kennenlernen, wenn du es willst«, sagte Bettina. »Ich kannte Jan auch nicht, doch wir sind uns so nahe gekommen, dass wir sogar heiraten werden.«
Linde nickte.
»Diese Nachricht hat mich ganz schön umgehauen, weil er es doch eigentlich überhaupt nicht wollte. Was glaubst du, hat ihn dazu gebracht, seine Meinung zu ändern?«
Bettina wollte es nicht, und sie konnte auch nichts dafür, aber auf einmal war wieder in ihr diese nicht zu erklärende Angst, die sie schon befallen hatte, als sie zum letzten Mal mit Jan zusammen gewesen war.
Hatte er, aus einem Gefühl der Vorahnung heraus, ihr Verhältnis legalisieren wollen?
Das war Unsinn!
Sie wollte so etwas überhaupt nicht weiterdenken.
»Er hat eben Spaß an einem ganz normalen bürgerlichen Leben bekommen«, sagte sie und versuchte, ihrer Stimme einen unverbindlichen Klang zu verleihen.
Diese Antwort genügte Linde, und sie spürte auch nichts von Bettinas innerer Anspannung.
»Ist schon ein Glücksgriff, dieser Jan van Dahlen, ich mag ihn, er ist interessant, kann herrlich erzählen, und er vergöttert dich, wenngleich ich …«
Beinahe erschrocken brach sie ihren Satz ab, sie konnte Bettina doch jetzt nicht sagen, dass sie ein wenig bedauerte dass es mit ihr und Thomas Sibelius, dem alten Freund ihrer Jugendtage, nicht geklappt hatte.
Bettina kannte ihre Freundin gut genug um zu ahnen, wie der Satz weitergegangen wäre.
»Thomas war mir eben nicht vorbestimmt«, sagte sie, »ich bin mir auch gar nicht mehr so sicher, dass es mit uns gut gegangen wäre. Er war meine erste große Liebe, aber wir waren ein Jahrzehnt getrennt, haben unterschiedliche Entwicklungen durchgemacht. Bestimmt hätte diese Liebe, die ja auch sehr viel Schwärmerei war, dem Alltag nicht standgehalten. Außerdem, was soll es überhaupt, darüber zu reden. Es hätte ohnehin kein gemeinsames Leben gegeben, sondern nur hier und da ein Treffen, ansonsten hätte ich in der Warteschleife gehangen, weil er für den Alltag längst seine Nancy hatte. Also finito, aus und vorbei, denk nicht mehr daran, wie es gewesen wäre mit Thomas und mir.«
»Tut mir wirklich leid, Bettina, ich wollte da keine schlafenden Hunde wecken«, sagte Linde bekümmert, die schließlich wusste, wie sehr ihre Freundin unter dem Verrat gelitten hatte, als sie zufällig erfahren hatte, dass ihr Thomas verheiratet war.
»Du hast keine schlafenden Hunde geweckt, Linde«, sagte sie, »es ist wirklich vorbei. Eigentlich blöd, dass Thomas wieder ins Gespräch kam, eigentlich ging es doch um dich und Christian. Ich wollte dir mit der Erwähnung