DUNKLER FLUSS. Nicholas Bennett. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicholas Bennett
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350373
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war verwirrt. Die sehen dich doch so, wollte er rufen. Leg dich wieder hin. Grants Blick galt einzig den Gleisen. Davey schaute ebenfalls hin und sah, dass einer der Kiesel heruntergefallen war. Grant hatte ihn wegen seiner Größe und seines Gewichts ausgesucht. Der Zug war der Brücke jetzt so nahe, dass der Stein immer mehr hüpfte und klapperte. Die Schienen über dem Flusstal brummten vor Elektrizität, während Davey vage wahrnahm, wie Steinchen – plitsch, platsch – in den Meas unter ihnen purzelten. Das alles geschah im Bruchteil einer Sekunde, bevor Grant aus ihrem Versteck stürzte und zur Spur preschte.

      Davey konnte seinen eigenen Schrei nicht hören.

      Der Zug kam auf die Brücke zu, durchdrang die Welt mit seinem Lärm und Gewicht, seinem Tempo und Gestank. Grant würde sterben, gleich hier, direkt vor seinen Augen. Dies war der Moment, in dem sich Davey der Wirklichkeit des Todes erstmals bewusst wurde.

      Hierbei handelte es sich nicht um einen Film mit John Wayne, in dem Cowboys Indianer erschossen, sondern um seinen Freund Grant, der drauf und dran war, von einer Eisenbahn in Stücke gerissen zu werden. Er kauerte nun vor dem Gleis und legte die heruntergefallenen Kiesel präzise mit fließenden Bewegungen zurück: eins, zwei, drei, vier. Dann lagen sie alle wieder auf der Schiene.

      Davey konnte jetzt das Gesicht des Zugführers sehen, der dem Knaben auf der Strecke hektisch mit beiden Händen zuwinkte. Man hörte nur noch die Pfeife der Lok, ein erschütterndes WAH-WAAAH! Grant machte einen Satz zurück zum Rand, ohne allerdings vorher zu schauen, wohin er überhaupt sprang. Er landete mit einem Uff! genau auf Davey. Die Bahn brauste vorbei – verschwommene Türen, Scheiben und Waggons – sie konnten sogar die Gesichter an den Fenstersitzen als weiße Kleckse ausmachen. Das Rauschen der vorbeirasenden Wagen und der Luft zwischen ihnen – TSCHAKA-TSCHAKA-TSCHAKA – dauerte unglaublich lange an, weshalb sich Davey die Ohren zuhielt und die Augen schloss, um nicht in Tränen auszubrechen.

      Dann war der Zug endlich vorbei. Der Krach verklang nicht langsam, sondern brach sofort ab. Nervenzerfetzend wurde innerhalb eines Augenblicks zu erträglich. Davey kniff die Lider immer noch fest zusammen, als ihm Grant einen Ellbogen fest gegen die Rippen stieß.

      »Aua! Wofür war das denn?«, beschwerte sich Davey. Grant zeigte auf den kleiner werdenden Zug und trug wieder das gewohnt spitzbübische Grinsen in seinem koboldartigen Gesicht. Davey konnte sehen, wie der Schaffner an der Tür des hinteren Waggons eine Faust schüttelte und die Lippen bewegte. Worte, die sie zwar nicht hören, sich aber sehr gut vorstellen konnten.

      – 4 –

      Kaum dass Davey den Finger in das weiße Pulver gesteckt hatte, zog er ihn hastig wieder zurück.

      »Autsch!« Die Schiene war heiß genug, um sich Hautblasen daran zu holen, ein Zusammenspiel des heißesten Sommers aller Zeiten und des gerade vorbeigefahrenen Intercity 125. Es sah verblüffend aus. Jeder Stein, auch der dicke, wegen dem Grant, um ihn wieder aufzulegen, sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, war pulverisiert worden – Grants Wortwahl und ein wunderbarer Ausdruck, wie Davey fand, als er ihn für sich wiederholte; noch nie war ihm ein Wort so treffend vorgekommen.

      Grant hatte immerzu die besten Ideen. Vielleicht mochte ihn deshalb niemand. Sie alle waren bestimmt nur neidisch, weil ihm stets die interessantesten Dinge einfielen, mit denen man sich die Zeit vertreiben konnte, sogar verglichen mit den Erwachsenen, die eigentlich, wenn man genau überlegte, recht langweilig waren. Tony, der neue Freund seiner Mutter, machte nie gute Vorschläge für Spiele. Grant hingegen dachte sich ständig etwas Spannendes aus. Dazu zählte auch verbotenes Zeug wie dies hier, aber er schien generell zu wissen, wie er sich unterhalten konnte, egal unter welchen Umständen. Vor Kurzem, im Frühjahr, hatte Davey bis zur Taille in sprudelndem Bachwasser gestanden, um Kaulquappen in einem Glas zu sammeln, Kleinfische mit einem Netz zu fangen und so den Lebensraum unter der Oberfläche des geräuschvollen Gewässers kennengelernt, das schon sein ganzes Leben unten an ihrem Garten vorbeifloss. Grant war Führer und Lehrer sowie Beschützer aller Tiere, sowohl der großen als auch der kleinen. Die beiden hatten auch schon Vogelnester in herabhängenden Ästen beobachtet, aus einer nach Grants Ermessen sicheren Entfernung – der ach so böse Grant Morgan, der das Überleben schlüpfender Küken gewährleistete, indem er zusah, dass die Glucke ungestört blieb, und der dafür sorgte, dass Kaulquappen nach angemessener Zeit, um sie zu betrachten, wieder freigelassen wurden, genauso wie Molche und kleine Fische. Grant trug seine Gummistiefel das ganze Jahr über, er spielte sogar Fußball damit und lief trotzdem genauso schnell wie die meisten Jungen aus der Nachbarschaft in ihren Turn- und Basketballschuhen.

      »Noch mal!«, verlangte Davey begeistert. Grant schaute in die Ferne, wo der Zug verschwunden war.

      »Na gut«, stimmte er gedankenverloren zu. »Aber dieses Mal machen wir es kniffliger.«

      Nicht lange, und je eine Reihe kalkiger Kiesel zeichnete sich über die halbe Brücke hinweg auf beiden Schienen ab. Grant stand zufrieden da und stemmte die Hände in die Hüften wie ein Familienvater nach getaner Arbeit im Garten. Eine Dose Bier und eine Zigarette hätten das Bild komplettiert. Davey legte besorgt die Stirn in Falten.

      »Glaubst du nicht, das könnte gefährlich werden?«, erkundigte er sich. Da es heute so heiß war, wurde sein Hals ganz trocken, während er mit den staubigen Steinen hantierte. Grant zuckte bloß mit den Schultern.

      Keiner der beiden Jungen hatte bemerkt, dass neben Ross' Grundstück ein Streifenwagen vorgefahren war. Sie hätten ihn eigentlich deutlich sehen können, wohingegen die beiden Polizisten die Hände über ihre Augen halten mussten, während sie in Richtung Brücke blinzelten. Sie bewegten sich gezielt über den unbefestigten Weg zum Fluss hin. Der Ältere sprach beim Gehen in ein Funkgerät, der andere zeigte auf einen Pfad, der durch das hohe Gras verlief. Er war noch jung genug, um sich der Abkürzungen zu entsinnen.

      Ein dritter Mann hatte sich am Streckenrand auf den Weg gemacht, nachdem er in der Stadt vom Bahnsteig gesprungen war. Ein besonders aufgebrachter Schaffner hatte nämlich die Bahnbehörde über die beiden Jungen am Streckenabschnitt bei der Brücke informiert; er war auch derjenige, dem sie das Polizeiaufgebot verdankten. Jetzt versteckte er sich hinter einem ausgedörrten Gebüsch mit dürren Zweigen, als die Brücke in Sicht kam. Durch das Dickicht konnte er die Bewegungen der beiden kleinen Racker ohne Weiteres im Auge behalten. Oh Gott, dachte er, der eine ist ja fast noch ein Baby. Er konnte nicht älter als vier sein. Während er den Knaben auflauerte, bemerkte er, dass die Polizei kam. Er würde sie abfangen, sollten sie in seine Richtung laufen. Wäre es bloß nicht so heiß … Er wischte sich den Schweiß aus den Augen.

      Grant und Davey schauten flussaufwärts, wo Schwäne im hohen Schilf nisteten, bevor der Strom einen Bogen beschrieb und langsam in der Ferne verschwand. Der jüngere Beamte bewältigte den Anstieg mit wenigen Sprüngen, wobei er sich an Büscheln von in der Sonne vergilbten Gräsern hochzog. Sein älterer Kollege hingegen erreichte die Brücke nur schwitzend und schnaufend. Grant hob arglos einen weiteren Stein auf und warf ihn über das Geländer. Davey grölte, da der Aufprall anscheinend beeindruckende Folgen hatte. Der ältere Mann hielt sich einen Zeigefinger vor den Mund und nickte in Richtung der nichts ahnenden Jungen. Die Beamten schlichen leise mit langen Schritten zum Gleis und hätten die Übeltäter direkt im Genick gepackt, wären da nicht noch die Kiesel auf der Spur gewesen. Der Ältere trat einen mit dem Absatz los, der dann klappernd gegen die Schwelle prallte, bevor er wieder zwischen den Schienen liegenblieb. Grant drehte sich daraufhin um und sah die zwei Uniformierten weniger als zehn Schritte entfernt. Er hielt sich an Davey fest, der buchstäblich in die Höhe fuhr, als er die Männer erblickte.

      »Jetzt nicht bewegen, Freunde«, beschwichtigte sie der ältere Polizist und lächelte beruhigend. Beide Männer hatten ihre Hände ausgestreckt; eine entgegenkommende Geste. »Niemand bekommt Ärger, wir müssen uns bloß unterhalten.« Sie gingen behutsam auf die Jungen zu. »Machen wir es uns nicht unnötig schwer.«

      Grant quetschte daraufhin Daveys Oberarm so fest, dass es wehtat. »Lauf«, schrie er und riss ihn mit sich. Davey stolperte, als sich der jüngere Beamte auf ihn stürzte, und spürte einen Luftzug, als dessen Hand nur knapp danebengriff. Dann befand er sich schon im vollen Lauf hinter Grant über die Brücke. Er hörte die Polizisten hinter sich und wusste, er würde gefangen