Manchmal trug ihm Gant mit voller, blühender Stimme Stellen aus Shakespeare vor; Mark Antons Anklagerede beim Begräbnis Julius Cäsars, Hamlets Monolog, das Bankett aus Macbeth, die Szene zwischen Othello und Desdemona, ehe er sie erwürgt. Auch Verse las er ihm, oder zitierte gar die Leibgedichte und Lieblingsballaden aus dem weiträumigen Rückhalt seines Gedächtnisses. Manchmal riefen sie Helene herzu, und sie mußte ihnen ein Gereimtes aufsagen:
»Noch steht das Schulhaus dort am Weg,
Ein zerlumpter Bettler sonnt sich vorm Tor,
Der Flieder schießt noch im Gartengeheg,
Und Brombeeren ranken, dicht wie zuvor …«
Wenn sie dann aufgesagt hatte, daß das Gras nun schon vierzig Jahre überm Grab des Mädchens wuchs, und an die Stelle kam, wo der ergraute Bettelmann gesteht, daß des Daseins einzig echter Sinn Liebe sei, das habe er in der harten Schule des Lebens gelernt …, dann seufzte Gant tief auf und bemerkte nickend: »Ja, ja, ein wahreres Wort als dies wurde niemals gesagt.«
Innig und einig lebte die Familie zusammen. Gant überschüttete sie mit seiner Schelte, seiner Zutunlichkeit, seiner verschwenderischen Fürsorge. Sie hatten es sich angewöhnt, seiner abendlichen Heimkehr erwartungsvoll entgegenzusehen, denn er brachte die große Freude am Leben, am Ritus des Daseins mit. Sie beobachteten ihn, wie er rüstigen Schritts um die Ecke bog, sie bewachten jede seiner Bewegungen vom Augenblick der Heimkehr an. Zuerst legte er die eingekauften Lebensmittel auf den Tisch, dann schichtete er Späne im Kamin des Wohnzimmers, goß Petroleum über sie und zündete das Feuer an. Darauf zog er den Rock aus und wusch sich gründlich am Wasserhahn in der Waschküche, die neben der Küche lag; seine großen harten Hände schruppten über die Bartstoppeln, daß es ein Geräusch machte, als riebe er sich das Gesicht mit Schmirgelpapier. Dann stellte er sich gegen den Türpfosten und kratzte sich mit heftigen Hinundherbewegungen den Rücken. Dann leerte er eine halbe Kanne Petroleum in das auflodernde Feuer, blies langlüngig hinein und fing an, vor sich hinzumurmeln. Schließlich biß er einen ordentlichen Priem Apfelkautabak von der Stange ab, die gebrauchsfertig für ihn auf dem Kaminsims lag, und – ohne seine grinsende Brut auch nur zu bemerken – schritt er im Zimmer auf und ab und komponierte seine Tirade. Wenn er soweit war, stürzte er in die Küche und ließ sie unter Geheul auf Eliza los.
Seine ungestüme zuchtlose Rederei mit den hochstaplerischen Vergleichen übte durch ständigen Gebrauch fast die Wirkung klassischer Zitate aus. Die Kinder, die alle einen großen Sinn für Komik hatten, ergötzten sich täglich. Sie freuten sich im voraus darauf. Selbst Eliza, deren große Wunde langsam und schmerzlich zuheilte, wurde davon angeregt. Aber sie hatte immer Angst, er würde wieder der Trunksucht verfallen, und vergaß und vergab ihm das Vergangne nie.
In diesem Winter, als der heilsame Frohsinn der Kinder die Todesgedanken aus ihrem Herzen vertrieb, kehrte auch wieder so etwas wie Hoffnung bei ihr ein.
Sie lebten für sich selbst, unter sich selbst, in sich selbst. Sie wußten nicht, wie allein sie waren. Jedermann kannte sie, aber sie waren mit niemand befreundet. Sie standen für sich allein. Der Gesellschaftsklasse nach zählten sie wohl zum Mittelstand, aber die Duncans, die Tarkintons, die Nachbarn und Bekannten fühlten sich nie zu ihnen hingezogen, hatten nie an der seltsamen Farbigkeit ihres Lebens teil. Sie waren anders, sie paßten nicht, sie gehörten nicht in die Welt der musterhaften Bürger. Etwas Ursprüngliches, etwas heillos Irres, von dem sie selber nichts ahnten, war in ihnen. Und Verkehr mit den feinen Leuten, zum Beispiel den Hilliards, war ihnen ebenso unmöglich, selbst wenn sie dafür begabt gewesen wären oder Lust darnach gehabt hätten. Aber sie hatten ja keine.
Gant war ein großer Mann; wenn auch kein außerordentlicher; denn Außerordentlichkeit zieht nicht das Leben aus unablässiger Ergebenheit zu sich.
Wenn er durchs Haus stürmte, um seine gesammelten Pfeile abzuschießen, folgten ihm die Kinder vergnügt. Sie schrien vor Lust, wenn er Eliza sagte, sie sei, als er sie zum erstenmal sah, »wie eine Schlange auf dem Bauche kriechend« ihm entgegengekommen … oder wenn er sie und alle Pentlands bei eingetretenem Frostwetter einer finstern Macht über die Elemente bezichtigte.
»Frieren werden wir, erfrieren!« gellte er, »in diesem verruchten, grausamen, gottverlassenen Klima. Schert sich Dein Bruder Will drum? Schert sich Dein Bruder Jim drum? Schert sich das alte Schwein, Dein elender Vater, drum? Barmherziger Heiland, Sendlinge des Teufels sind sie, denen ich in die Hände gefallen bin! Herzloser als die wilden Tiere des Walds! Höllenhunde sind sie, diese Pentlands, sie lassen mich erfrieren, sie sitzen dabei und weiden sich an meiner Qual, bis ich verrecke!«
Er rannte in die Waschküche nebenan und brummte heftig vor sich hin. Lukas stand grinsend dabei.
»Aber fressen können sie!« schrie er dann und tauchte wieder in der Küchentür auf. »Fressen können sie, wenn ihnen jemand etwas vorsetzt. Mein Lebtag werde ich das alte Schwein nicht vergessen, wie er dasaß und schlang … ›Eliza, kann ich noch etwas Huhn haben?‹ …« – hier ahmte Gant die weinerlich-leise Stimme des alten Majors Tom Pentland nach und setzte eine Miene wahnwitzigen Heißhungers auf. Die Kinder platzten heraus vor Vergnügen. – »… und dann blieb ihm der Bissen im Hals stecken, weil er ihn nicht schnell genug herunterbekam, und wir mußten ihn vom Tische wegbringen!«
Immer, wenn seine Bezichtigungen einen Höhepunkt erreichten, quietschten die Buben oder platzten heraus. Dieser Beifall kitzelte Gant; er sah sich listig um, und ein schwaches Grinsen huschte über seinen dünnlippigen Mund. Auch Eliza lachte zuweilen kurz und trocken auf und rief dann abwehrend: »Raus aus der Küche! Ich habe genug von diesem Krach für heute abend.«
Bei solchen Gelegenheiten siegte manchmal sein guter Humor über ihn; er machte einen plumpen Versuch, Eliza zu hätscheln, ging hin und legte seinen Arm um ihre Hüfte. Sie war verwirrt und entzog sich ihm hilflos: »Weg da! Hände weg von mir! Dazu ist es nun zu spät!« Ihr weißes, verlegenes Lächeln war schmerzhaft und komisch zugleich. Tränen traten ihr in die Augen. Bei diesen seltenen, unnatürlichen Schaustellungen der Zutunlichkeit lachten die Kinder nur unterdrückt. Es war ihnen unbehaglich zumut. Oft baten sie: »Ach, laß sie in Ruh', Papa!«
Eugen stand im fünften Lebensjahr, als er zum erstenmal einer solchen Szene beiwohnte. Es war ihm peinlich, er schämte sich, er spürte einen Klumpen in der Kehle, renkte den Hals wie ein Erstickender und lächelte verzweifelt, ganz so, wie er später tat, wenn er auf dem Theater arme Narren oder ekelhafte Szenen sah. In der Tat, ohne ein würgendes beklemmendes Gefühl der Demütigung konnte er nie mitansehen, wenn seine Eltern zutunlich miteinander waren. Zärtlichkeit zwischen ihnen kam ihm wie eine grausame Mache vor.
Die Zeit brachte den machtvollen, keimkräftigen Besitzinstinkt in Eliza zum Wiedererwachen. Der heimliche Krieg gegen Gants Natur fing wieder an. Die Kinder wuchsen heran. Eugen hatte in Henry Tarkinton und Max Isaacs Spielgefährten gefunden. Das Weib in Eliza war am Erlöschen.
Der alte Zank um Grundsteuern ging von neuem los. Ziel um Ziel kam Gant, den Zettel des Einnehmers in der Hand, tobend nach Haus:
»Bei Gott, Weib, wohin soll das führen? Ich sehe schon, wie es endigt. In einem Jahr wandern wir ins Armenhaus. Ich gehe bankrott. Diese verdammten Schwindler werden mir den letzten Cent aus der Tasche nehmen, meine Sachen kommen unter den Hammer. Wir alle werden Bettelsüppchen essen, ehe noch dieser furchtbare, dieser entsetzliche, dieser höllisch-verruchte Winter herum ist.«
Sie schürzte nachdenklich die Lippe und prüfte den Steuerzettel, während er ihr mit qualvoll gespanntem Gesicht zusah.
»Ja, das sieht mir schlecht aus, das muß ich sagen«, bemerkte sie dann. »Jammerschade, daß Du vorigen Sommer nicht meinem Rate gefolgt bist, denn dann hätten wir den dummen Owenbyplatz gegen die zwei Häuser an Carterstreet eingetauscht und würden jetzt