TIDAL GRAVE - Ihr hättet es nicht wecken dürfen!. H.E. Goodhue. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: H.E. Goodhue
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350540
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ging es schon seit er denken konnte jeden Sommer so vonstatten, und irgendwann hatte er gelernt, seine Freiheit zu lieben. Er konnte sich durch die Hintertür aus dem imposanten Sommerhaus der Familie schleichen, das direkt am Strand stand, und auf Erkundungsreise gehen, wohin er wollte. Die Küste hielt immerzu wunderliche, aufregende Dinge für den Jungen bereit. In einem früheren Jahr war er auf einen ausgetrockneten Hufeisenkrebs gestoßen. Der hatte furchtbar gestunken, aber ungeheuer cool ausgesehen, echt prähistorisch. Seine Schwester war noch nie im Leben so ausgerastet wie damals, als er ihr das Tier heimlich ins Bett gelegt hatte. Natürlich war sie böse auf ihn gewesen, doch was hätte sie tun sollen: bei Mom petzen? Sie alle hatten gewusst, dass ihre Mutter im Jachtklub war und sich nicht so bald auf den Heimweg machen würde – zumindest nicht zu ihrem Haus.

      Nun schlenderte Carson am Strand entlang. Es war noch früh und ruhig. Nicht mehr lange, und die ersten anderen Menschen würden aus ihren Häusern kriechen, auch ein paar Kinder, aber eigentlich niemand, mit dem Carson spielen wollte. Seine Altersgenossen waren langweilig; nie wollten sie die Insel erforschen oder Sachen entdecken.

      Ein großer, wuchtiger Schattenriss zuckte ein paar Hundert Fuß vor Carson am Strand herum. Zunächst dachte er, er würde über ihren Nachbarn Mr. Van Bolden stolpern, der sich wieder mit einer Kellnerin aus dem Jachtklub balgte. Soweit Carson es hatte erkennen können, war sie ihm unterlegen gewesen, hatte aber wiederum auch nicht den Anschein erweckt, sich ernsthaft zur Wehr zu setzen. Mr. Van Bolden war alt und fett, weshalb es in Carsons Augen eigentlich ein Leichtes sein sollte, ihn zu überwältigen. Der Junge fand es außerdem doof, nackt mit jemandem zu ringen, aber sein Dad meinte, das täten Erwachsene hin und wieder zum Spaß oder aus Liebe zueinander. Carson glaubte, seine Eltern würden vielleicht auch besser gelaunt sein, wenn sie es ab und an mit dem Ringen versuchen würden; Mr. Van Bolden schien es jedenfalls sehr gut gefallen zu haben, der Kellnerin hingegen eher weniger.

      Als er näherkam, erkannte Carson, dass der Schatten zum Glück nicht Mr. Van Bolden war, sondern überhaupt kein Mensch. Nein, er hatte vermutlich den erstaunlichsten Fund unter allem gemacht, was je am Sunset Beach für ihn angespült worden war.

      Ein dicker, grauer Hai bäumte sich mehrmals im Sand auf, als versuche er, sich weiter an Land zu winden. Carson wahrte geflissentlich Abstand, konnte sich dem Ganzen aber trotzdem nicht entziehen. Einen so großen Hai, bestimmt fünf Fuß lang, hatte er noch nie gesehen. Er tippte auf einen Braunhai, konnte es allerdings ohne seine Bücher nicht genau bestimmen, obwohl es eigentlich auch egal war, denn es war ein Hai! Das allein fand er schon genial.

      Das Tier zu beobachten war spannend, doch als Carsons Blick auf die Kiemen fiel, wurde ihm ängstlich zumute. Auch das hatte er aus seinen Büchern erfahren: Manchmal wurden Meerestiere wie Haie, Delfine oder Wale krank und strandeten bewusst. Meistens konnte niemand ihnen helfen; Carson ahnte, dass dieser Hai sterben würde.

      Vielleicht war es Jugend, Leichtsinn oder beides zusammen, aber Carson wollte nicht mit ansehen, wie dieses wunderbare Geschöpf verendete. Es folgte ihm mit glasig schwarzen Augen, während er vorsichtig herumging. Der Hai war zu schwach, um sich zu wehren, als der Junge seinen Schwanz packte und anfing, ihn zurück ins Wasser zu ziehen. Die Haut des Tiers war rau und trocken, weshalb sie an Carsons Händen kratzte, doch er ließ nicht los; er würde den Hai retten und dann dabei zusehen, wie er wieder fortschwamm. Mochte ihm auch niemand glauben: das war egal, denn er selbst kannte die Wahrheit.

      Als er das Tier so weit geschleift hatte, dass ihm das Wasser bis an die Schienbeine reichte, fing es an, mit dem Schwanz zu schlagen, sodass er rücklings ins Meer fiel.

      »Was tust du denn, du dicker Dummkopf?«, rief Carson, während er sich das Salzwasser aus den Augen rieb. »Ich will dich doch bloß retten!«

      Der Hai hatte sich aber bereits wieder an den Strand zurück gewunden.

      Da verspürte Carson den Drang, sich umzudrehen und aufs Wasser zu schauen. Was er sah, ließ ihn erstarren.

      Mehrere große, schwarze Flossen, teils dreieckig und teils nach hinten gebogen, kamen auf die Küste zu. Carson nahm verblüfft zur Kenntnis, wie die Delfine und Haie durch das Wasser glitten, vorbei an seinen Beinen an den Strand. Dieser war irgendwann von ihren Leibern förmlich übersät.

      Carson rannte zum Familienhaus zurück. Hoffentlich war schon jemand wach, der vielleicht wusste, was da vor sich ging. Möglicherweise fand sein Dad ja eine Erklärung dafür, weshalb die Haie und Delfine an den Strand gekommen waren; ein Vater sollte sich doch mit so etwas auskennen.

      Warum brachten sie sich alle selbst um? Carson hatte sich so sehr angestrengt, dem ersten Hai zu helfen, doch der war einfach ausgeschert und wieder ins Trockene gekrochen. Seine Bücher mussten sich irren; das glaubte Carson, ganz sicher zu wissen. Jener Hai war nicht krank gewesen, sondern hatte sich gefürchtet.

      7

      Eine der vielen Annehmlichkeiten, die Ray als Kapitän der Fähre genoss, war die Tatsache, dass sich niemand beschwerte, wenn er oft krankfeierte, und ein Vertreter bereitstand, um das Schiff zu fahren. Ehrlich gesagt konnte er sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal wirklich krank gewesen war. Verkatert lag verdammt nah dran, also hatte er kein ausgesprochen schlechtes Gewissen, wenn er sich von der Arbeit abmeldete. Sicher, Sunset Island war so klein, dass Ray seinem Boss schlussendlich über den Weg laufen würde, doch drauf geschissen: Der Kerl ließ häufiger als er dreizehn gerade sein und war doppelt so betrunken, wenn er denn mal aufkreuzte. Nein, Ray hatte sich einen freien Tag verdient und machte sich keinen Stress deswegen.

      Herumzusitzen und sich vom Tagesprogramm im Fernsehen berieseln zu lassen war noch nie Rays Ding gewesen. Er hatte sich bemüht, als Linda noch zugegen gewesen war, etwas an den Talkshows und dem hanebüchenen Unfug von angeblich wahren Hausfrauen zu finden, doch das Zeug war ihm stets nur auf den Sack gegangen. Letzten Endes hatte er sich gelangweilt und eine Bemerkung zu einem der vollbusigen Plastikmonster gemacht, woraufhin seine Frau außer sich geraten war. Zoff hatte dann für gewöhnlich nicht lange auf sich warten lassen. Ray fand es irgendwie witzig, dass Sendungen aus der Sparte Reality-TV für den Niedergang seiner Ehe verantwortlich waren, aber so war es tatsächlich. Wo auch immer Linda gerade steckte: Er hoffte, das große K schaute sich diesen dämlichen Mist ebenfalls gerne an, denn das würde er selbst im Leben nicht, und wohl der Frau, falls sie es tat.

      Man brauchte nicht lange, um Sunset Island einmal vollständig abzuklappern, und nach der dritten Rundfahrt in seinem alten, zerbeulten Pick-up war Ray dessen so überdrüssig, dass er das Eisenwarengeschäft betrat. Dort gab es wie in den meisten Läden auf der Insel von allem ein bisschen. Tatsächlich verkaufte man Werkzeug und Bauholz, bot aber auch eine breite Auswahl von Erwachsenenvideos, Spielsachen für den Strand und Boote zum Mieten an – alles unter einem Dach. Ray wusste nicht, was er wollte, ging aber davon aus, hier fündig zu werden. Außerdem konnte man sich immer gut mit Cal, dem Besitzer, über den neusten Inseltratsch unterhalten.

      »Hey ho, Ray.« Der Mann winkte, als ihm das blecherne Klingeln der Türglocke Rays Eintreten ankündigte.

      »Was gibt es Gutes zu vermelden, Cal?«, fragte Ray. So begannen sie jedes ihrer Gespräche.

      »Gutes? Mann, da fällt mich nichts ein«, schnaubte Cal, »aber dem kleinen Stinkstiefel, der meinen Bayliner gemietet und noch nicht zurückgebracht hat, wird es weiß Gott schlecht gehen.«

      »Du vermisst dein Boot?«, hakte Ray nach.

      »Er lässt schon fast einen halben Tag lang auf sich warten.« Cal nickte. »Einer dieser … wie nennst du sie immer? Bartschnösel! Genau, das war der Ausdruck! Einer von diesen Bartschnöseln mietete es mit drei Freunden, um fischen zu fahren. Shit, ich hätte es besser wissen müssen, so wie die aussahen. Diese kleinen Scheißer fangen sich eher den Tripper ein als verdammte Fische, aber na ja, Ray, du kennst das ja: Die Menschen von den Fähren haben Kohle, und wir brauchen sie.«

      »Ist eine Tatsache«, pflichtete Ray bei. »Der Penner, der das Boot mietete, hieß nicht zufällig Alex, oder?«

      »Doch.« Cal zog einen Stoß vergilbter Kohledurchschläge unter seinem Ladentisch hervor und streifte das Gummiband ab, von dem sie zusammengehalten wurden. Nachdem er ein paar durchgeblättert hatte, zog er ein Blatt heraus.