Alex ließ seinen Blick am Horizont entlang schweifen. Wo stand die Plattform bloß? Ihm fiel ein, dass jemand im Ferienlager gemeint hatte, Entfernungen auf dem Wasser abzuschätzen sei schwierig, doch er war sich sicher, dem verdammten Ding nahe sein zu müssen.
Abermals ging ein hohles Plonk durch den Rumpf.
»Mensch, was ist das denn für ein Lärm?«, stöhnte Wally. Er fasste sich an die Schläfen, bevor er wieder über die Bordwand kotzte. Nachdem er ein paar Mal gehustet hatte, blickte er auf, hing aber immer noch gebeugt über dem Wasser. »Alter, egal was den Krach verursacht, er bringt mich um.«
Alex drehte sich um, und schrie Wally an, er solle kein solcher Jammerlappen sein. An irgendjemandem musste er seine schlechte Laune schließlich auslassen, aber ganz gewiss nicht an sich selbst.
»Wally, warum schaust du nicht mal in deinem Rucksack nach, ob du deine Monatsbinden eingepackt hast?« Er erhielt jedoch keine Antwort, sondern hörte es nur laut platschen.
Als er zum Heck rannte, musste er über seine anderen beiden schlafenden Freunde springen. Wie konnte Wally nur so dumm sein? War er wirklich gerade ins Meer gefallen?
»Prima, das wird dir eine Lehre sein, dich nicht mehr wie der letzte Schlappschwanz zu benehmen.« Alex grinste, als er sich über die Reling beugte, weil er erwartete, Wally belämmert neben dem Boot Wasser treten zu sehen. Sein Freund war jedoch nicht da.
Scheiße, scheiße, scheiße!, schrie Alex in Gedanken. Falls sich Wally den Kopf gestoßen hatte, konnte er ohnmächtig geworden sein und vielleicht in diesem Moment ertrinken. Die Kosten für eine Reinigung des Boots erklären zu müssen war ein Klacks, aber wie hätte Alex seinem Vater beibringen sollen, dass er einen guten Rechtsverteidiger bezahlen musste? Übel war das, sauübel!
»Wally du blöder Arsch, hör auf mit den Faxen!«, rief Alex. Er erwartete – nein hoffte –, Wally werde jeden Augenblick mit einem dummen, breiten Grinsen im Gesicht auftauchen, doch nichts geschah. Er hörte nur das sanfte Rauschen der Wellen, die an der Bordwand leckten, und das dumpfe Plonk, wenn etwas gegen den Rumpf knallte.
»Woher kommt das nur?« Alex brüllte beinahe auf, als er erneut hörte, wie was auch immer von unterhalb gegen das Küstenboot schlug. Schließlich reckte er sich wieder über die Reling und sah etwas, bei dem es sich wohl um das besagte Objekt handelte. »Was ist das – Schwemmholz oder was?« Er zog es an Bord. Es war ein Stück Holzplanke mit den aufgemalten Buchstaben GLAX, und das Ende fehlte. Es war abgebrochen – nein, abgebissen worden.
»Glaxco?«, schlussfolgerte Alex. Hieß so nicht der Konzern, den der Kapitän erwähnt hatte? War dies Abfall von der Bohrinsel? Nein, das konnte nicht sein. Dass eine Ölgesellschaft das Meer mit Dingen verschmutzte, auf dem ihr Name prangte, stand völlig außer Frage; das wäre schlichtweg dumm gewesen. Wenn es jedoch kein Müll von der Plattform war, dann vielleicht ein Teil von ihr selbst?
An dieser Stelle hätte sie eigentlich stehen müssen, das glaubte Alex ganz sicher, doch wo zum Geier war sie abgeblieben – ganz zu schweigen von Wally?
»Oh shit, Wally!« Alex stürzte wieder zur Seite. Im Tal mehrerer Wellen, die vorbeirollten, bewegte sich etwas auf und ab. Ein Paar weiße Keds-Treter sprangen ihm ins Auge, als das Boot auf der nächsten niederging. »Verflucht, Wally, du Arschgesicht, deinetwegen wandere ich nicht in den Knast.«
Er streifte seine Schuhe ab und sprang über die Reling des Küstenboots. Auf der Highschool war er der Anführer der Schwimmmannschaft gewesen, also stellte es kein Problem für ihn dar, zu Wally zu kraulen und seinen bekloppten Arsch zurück an Bord zu ziehen. Oh ja, Alex würde ein Held sein, was für eine Story … Das musste ihm erst mal jemand nachmachen.
Alex kämpfte sich durch die Wellen. Weitere Trümmer trieben ringsum. Auf den Seiten einiger war das Logo von Glaxco Holdings aufgedruckt, während der Rest wirklich wie Abfall aussah, doch er wurde das Gefühl nicht los, dass auf der Plattform etwas Unglaubliches vorgefallen war. Dabei musste er lächeln. Nein, er würde sich nicht nur zum Helden gerieren, weil er seinen Freund gerettet hatte, sondern auch die erste Person sein, die von einem schweren Unfall auf dem neuen Bohrturm des Konzerns berichten konnte. Die Zahl der Aufrufe seines Blogs würde in die Höhe schießen, ganz zu schweigen von jener seiner Abonnenten bei Twitter und Instagram; sie konnte sich ohne Weiteres verdreifachen, wenn er begann, Fotos hiervon zu posten. Jetzt brauchte er nur noch Wally, den Saftsack, zurück ins Trockene zu bringen.
Alex warf einen Blick über seine Schulter, um sich zu vergewissern, dass das Boot nicht wegtrieb. Alles gut, wie es aussah; Jo-Jo und Auggie am Heck schlummerten immer noch. Dann begannen plötzlich Blasen, rings um den Rumpf hochzusteigen. Zunächst waren es nur ein paar – unerheblich eigentlich –, doch bald konnte man glauben, das Meer sei an dieser Stelle am Kochen.
Scheiße, es muss leckgeschlagen haben!, befürchtete Alex. Was in Gottes Namen sollten sie jetzt tun? Wally war nur wenige Fuß entfernt, doch dem Anschein nach trieb die Dumpfbacke mit dem Gesicht unter Wasser. Nur er wäre imstande, an der Oberfläche zu ertrinken.
Indem Alex fester austrat und sich den Schwung einer Woge zunutze machte, bekam er Wally an einem Fußknöchel zu fassen und zog. Als er sich umdrehte und zurück zum Boot schwimmen wollte, war das Wasser dort zu einem schäumenden Brodem aus Trümmern und Blasen geworden.
Ein riesiger Schatten schwamm darunter hindurch, und Angst machte Alex das Herz eng. War es ein Hai? Nein, so groß wurden die nicht, ausgeschlossen. Vielleicht ein Wal oder so etwas? Schlugen die nicht Blasen, um Fische zu fangen? Alex glaubte, sich diesbezüglich an etwas aus Animal Planet zu erinnern, aber na ja: Die Sendung schaute er sich eigentlich nur bekifft an.
Der Schatten verfinsterte das Meer unter dem Boot. Das Wasser wallte auf, sodass der Rumpf angehoben wurde. Etwas Dunkles, Gewaltiges stieg beiderseits an die Oberfläche. Weil Wasser daran herunterströmte, erkannte man abgesehen von der Größe keine Einzelheiten. Fiberglas zersplitterte und brach, als der Kahn unter Wasser gezogen wurde. Der Motor tuckerte noch ein paarmal, bevor er in den Wellen verschwand. Das Boot war weg, Auggie und Jo-Jo ebenfalls.
Alex wollte panisch werden und am liebsten weinen; hätte er doch nur auf den bärbeißigen, alten Fährmann aus dem Kaff gehört … Welche Art von Wal verschlang denn bitteschön ein Boot? Man sollte doch meinen, der elende Bastard von Kapitän hätte ihn genau vor so etwas warnen sollen.
»Komm schon, Wally! Wach auf, Mann! Wach auf!« Alex zerrte am Knöchel seines Freundes. Als er ihn zu sich zog, fiel ihm schlagartig auf, dass ihm dies aufgrund von Wallys stattlichem Bierbauch eigentlich schwerer fallen sollte, als es der Fall war.
Nun erkannte er, dass der Oberkörper des Jungen fehlte. Hautfetzen tänzelten auf der Wasseroberfläche. Ein langer Strang Eingeweide quoll aus dem Unterleib wie ein Tau, schlängelte nach unten und versank in der trüben Tiefe des Meeres.
Als Alex die Überreste seines Freundes sah, fing er tatsächlich an zu weinen und konnte seine Blase nicht mehr kontrollieren; da er im Wasser war, glaubte er, das sei egal und hielt es im Grunde auch gar nicht zurück.
Dies war alles die Schuld des Kapitäns; alles lastete auf seinen Schultern. Warum nur hatte er Alex nicht davor gewarnt, dass hier draußen ein Ding lauerte, das einem Menschen oder einem Boot so etwas antun konnte? Vielleicht hatte er es auch nicht gewusst; vielleicht spielte es aber auch gar keine Rolle mehr.
Alex beobachtete, wie der Schatten, den er unter dem Boot gesehen hatte, nun unter ihm Form annahm. Er füllte seinen Gesichtskreis aus, während er unvorstellbare Proportionen annahm. Als sich das Ding dann nach oben wand, stieß Alex einen schwachen Schrei aus und verschwand unter den Wellen.
6
Carson Creswell der Vierte freute sich vermutlich als einziges Mitglied der Familie auf den Sommerurlaub auf Sunset Island. Seine älteren Geschwister waren stets zu müde von der vorangegangenen Nacht, um es sich richtig gut gehen zu lassen. Dies führte dazu, dass sie komisch rochen und miesepetrig wurden, obwohl sie den Großteil des Tages verschlafen hatten. Blieben noch Mom und Dad; die waren zu sehr damit beschäftigt, einander