Eine Milliarde für Süderlenau. Astrid Wenke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Astrid Wenke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783944576008
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      Burkhardt zuckte die Achseln. »Darüber habe ich nichts herausgefunden – immerhin, es könnte mein Bruder gewesen sein. Ich hätte gern einen Bruder gehabt …«

      Die Versammlung vor Novacrem begann sich aufzulösen. Passanten kamen vorüber und nickten uns Dissidenten zu. Silvia sah auf ihre Uhr, ihr Kehlkopf begann auf und nieder zu hüpfen.

      »Ich muss nach Hause.«

      Burkhardt war irritiert: »Wartet ein Kind auf dich?«

      »Gewissermaßen.«

      Ihr Lachen war kurz und brach ab.

      »Auf Wiedersehen, Burkhardt.«

      Mich umarmte sie und drückte mich liebevoll. »Eine schöne Geburtstagsfeier, Katharina. Gruß an Heidrun und Hilmar.«

      Ich trug ihr keine Grüße an Michael auf, weil ich wusste, dass Michael das gleichgültig war. Michael war ausschließlich an Silvia interessiert.

      Alleingelassen mit meinem Rektor fand ich nicht mehr in eine selbstverständliche Haltung zurück und rutschte auf dem Stuhl hin und her.

      »Na dann.« Ich stand auf.

      Seine Augen leuchteten mich an.

      »Ich wünsche dir ein schönes Wochenende.«

      Hinter einer engen Mündung zur See hin befindet sich die kleine Bucht, an deren Nordufer Süderlenau liegt. Ein Wanderweg führt am Wasser entlang und endet, nachdem er die Bucht umrundet hat, auf deren Südseite an einem langen Sandstrand am offenen Meer. Zehn Kilometer sind es von Süderlenau bis zu diesem Strand, und ungefähr auf halber Strecke liegt Heringsort, wo Heidrun, Hilmar und Josefa wohnen. Heidrun war dort aufgewachsen und hatte vor Jahren, nach dem Tod ihrer Großmutter, ein Häuschen in dem Ort geerbt.

      Am schönsten ist es dort zur Zeit der Rapsblüte, wenn die gelben Felder zwischen dem Grün von Kuhweiden und jungem Getreide hervorleuchten. Als ich mit dem klackernden Päckchen die hügelige Landschaft durchwanderte, war der Raps längst verblüht, die Früchte geerntet. Die Erde lag offen und braun gefurcht. Einige Schwäne watschelten über die Äcker, um von der neuen Saat zu kosten, die vereinzelt grün aus dem Boden brach.

      Heringsort und Süderlenau sind verfeindet, daran hat die Eingemeindung des Dorfes vor nun mehr als vierzig Jahren nicht rütteln können. Die Feindschaft gründet vor allem in dem Zank um die Heringe, die auf ihrem Laichzug im Frühjahr zunächst an unserer Stadt vorüberschwärmen, sofern sie nicht in die Reusen geraten, die die Süderlenauer Fischer seit Jahrhunderten bei uns auslegen. Erst wenn sie diesen entronnen sind, führt ihre Reise sie tiefer in die Bucht hinein nach Heringsort. Heutzutage wird den Fischen nicht nur von Berufs wegen aufgelauert. Die Heringszeit ist Anlass für ein großes Fest mit Zuckerwatte und Karussells, währenddessen Süderlenau geschlossen am Kai steht und die Angeln auswirft, ein weiterer Dorn in den Augen der missgünstigen Nachbarn, die von jeher klagen, wir würden zu viele Heringe wegfischen. Der Bestand sei durch uns gefährdet, behaupten sie.

      Natürlich ist das Unsinn. Riesige Schwärme ziehen an Süderlenau vorbei, ohne auch nur in die Nähe einer Angel zu kommen. Die Heringsorter sind schlicht Neidhammel und gönnen uns keinen Fitzel Fisch an der Gräte.

      Ich hatte Heidrun im Konfirmationsunterricht kennengelernt und war zunächst voreingenommen gewesen, weil sie aus Heringsort kam. Doch Heidrun mochte keinen Fisch. Ihr missfiel die Heringsgier ihrer Mitbürger ebenso wie uns Süderlenauern. So hatten wir über die Feindseligkeiten hinweg Freundschaft schließen können.

      Heidrun und ich waren häufig den Weg am Meer entlangspaziert, hatten auf dem Findling gesessen, den ein romantisch beseelter Heimatdichter aus Heringsort als »gewaltigen Felsen« besungen hatte. Sie war meine beste Freundin gewesen, bis sie sich – viel später dann – in Hilmar verliebte und keine Zeit mehr für mich hatte.

      Ich hatte mich selbst nicht verstanden, so zickig hatte ich reagiert. Erst vor guten zwei Jahren hatte ich den Schmerz überwunden und Heidrun als meine Bruderfrau anerkannt. Da war sie siebenundvierzig Jahre alt und hatte mir zur Überraschung aller meine Nichte geschenkt: die kleine Josefa mit dem starken Willen.

      Die Luft war kühl und klar. Ich schritt kräftig aus und horchte auf das Schreien der Möwen. Kühe standen mit überquellenden Augen am Zaun, unbewegte Zeuginnen meines Vorüberschreitens. Ich schlenderte an dem langen Holzschuppen vorbei und horchte auf die Stille. In den Tagen meiner Freundschaft mit Heidrun hatte von dort Gegacker geklungen. Wir waren neugierig gewesen und einmal, als die Tür offen gestanden hatte, waren wir hineingeschlichen. Dicht an dicht hatten die Hühner in engen Käfigen gesessen.

      Ich hatte weinen müssen. Heidrun nicht. Sie hatte Gefühlsduselei nie gemocht.

      Mich hatten die Hühner lange beschäftigt. Eingesperrt sein ist furchtbar, allein sein ist entsetzlich. Das Schicksal der Hühner, beides ertragen zu müssen, schmerzte mich.

      Es drängte mich, mich tiefer mit ihrer Situation zu beschäftigen, um die Ursachen für ihr Leiden zu ergründen. Heidrun half mir bei einem Referat über Tierhaltung in Deutschland, mit dem alles noch schlimmer wurde, so dass ich mich in der Folge geweigert hatte, Milch zu trinken, Fleisch, Eier, Butter oder Quark zu essen, bis eines Tages der Zahnarzt in mein Zimmer eindrang. Er hatte auf meinem Schreibtischstuhl Platz genommen, während ich auf dem Kinderbett hockte, und ich hatte gewusst, er würde nicht weichen, bis ich gesprochen hatte. Ich weiß noch, wie er mir nach meiner trotzigen Erklärung über den Kopf gestrichen hatte. Mir ist das in Erinnerung geblieben, denn die Gelegenheiten, zu denen meine Eltern mich zärtlich berührten, kann ich an einer Hand abzählen.

      Damals führte der Vater mich in die Tatsachen des Lebens ein, die Ohnmacht der Menschen sich selbst gegenüber: Alles musste sein und bleiben, wie es war, des Geldes wegen, das die Menschen zur Erleichterung ihres Tauschverkehrs erfunden und dessen Eigendynamik sie sich mitsamt ihrer Landwirtschaft unterworfen hatten. Wollten die Bauernhöfe auf dem Markt bestehen, konnten sie Hühnern, Kühen und Schweinen keine Tierwürde gestatten. Das ließ sich nicht ändern, selbst dann nicht, wenn wir Berge aus Butter herstellten, die niemand aß, und nicht einmal wenn den Bauern Prämien gezahlt wurden, um überzählige Rinder zu schlachten. Das System war größer und stärker als wir.

      Ich wollte nicht, dass mir die Zähne im Mund verfaulten, wie der Zahnarzt es mir vorausgesagt hatte für den Fall, dass ich bei meiner veganen Lebensweise bleiben sollte. Dennoch vergaß ich die Hühner nie. Sie gaben den Ausschlag, mich an Silvia anzuschließen, als sie nach Süderlenau kam und über die Auswüchse des Kapitalismus wetterte.

      Heidrun hatte versprochen, den Kinderbesuch erst für den späten Nachmittag einzuladen. Einen Moment verweilte ich lauschend an der Gartenpforte. Stille. Sie schien Wort gehalten zu haben, und ich wagte mich näher.

      Josefa schoss aus dem Hinterhalt auf mich zu und umklammerte mein Bein.

      »Herzlichen Glückwunsch, Geburtstagskind!« Ich hob sie hoch. Während sie sich an mich drückte und die Arme um meinen Hals legte, schloss ich die Augen.

      »Ich habe sie doch ganz schön lieb«, erklärte ich Heidrun, die aus der Haustür trat.

      »Das hast du«, bestätigte Heidrun amüsiert, »und es wundert dich jedes Mal. Du solltest öfter kommen, dann vergisst du nicht so schnell, wer dir etwas bedeutet. Übrigens, dein Vater ist schon da.«

      Ich riss die Augen auf und trat einen Schritt rückwärts auf die Gartenpforte zu, suchte Halt, indem ich die kalte Klinke umklammerte.

      »Nichts da!« Heidrun schärfte ihren Tonfall. »Ich habe Opa eingeladen, aber schlussendlich ist er euer Vater.«

      »Vielleicht«, meuterte ich leise.

      »In welcher Bedeutung des Wortes auch immer«, ergänzte Heidrun. »Ich finde nicht gut, was sie mit dir abgezogen haben. Trotzdem: Er hat für dich gesorgt.«

      So war das, wenn man eine kleine Nichte hatte. Vor Josefas Geburt hatte ich Ruhe und Abstand gehabt. Ich hatte Hilmar an seinem Geburtstag gesehen, wenn es hochkam. Vater hatte ich eine Karte geschickt. Mutter war seit Jahren tot. Nun krauchte alles um das Kind zusammen,