Eine Milliarde für Süderlenau. Astrid Wenke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Astrid Wenke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783944576008
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      Ich erinnere mich heute noch an die Angst, die ich verspürte, sobald ich die Klinke an der Tür zum Schulhof herunterdrückte. Obwohl ich Britta seit jenem ersten Schultag aus dem Weg ging, erwischte sie mich wieder und wieder. Nicht dass sie mir nachstellte, das war ich ihr nicht wert – sie malträtierte mich beiläufig, wenn sich zufällig eine Gelegenheit bot. Einmal zeigte ich meiner Lehrerin die blauen Flecken an meinem Schienbein. Britta bekam reichlich Ärger. Danach hatte sie es bei verächtlichen Blicken belassen.

      Silvia und ich konnten unseren Konflikt um Novacrem nicht lösen, das hatten wir nie gekonnt, und es war nun auch wirklich an der Zeit aufzubrechen. Wir atmeten tief – es half ja alles nichts – und standen auf.

      Um die Schule noch rechtzeitig vor dem Klingeln zu erreichen, liefen wir im Sturmschritt los.

      Ich eilte die Treppe hinauf in den dritten Stock. Die Kinder erwarteten mich fröhlich. Ich musste trotz allem lächeln, als ich ihre gespannten Gesichter sah. Ein kleiner Pulk sammelte sich um mich und drängelte: »Was machen wir heute, Frau Manthey?«

      Thema ›Rhythmus‹: In Gedanken noch bei Novacrem ließ ich sie eine lebende Maschine bauen. Ein Kind begann: eine Bewegung und ein Geräusch. Das nächste Kind schloss sich mit einer weiteren Bewegung, einem zweiten Geräusch an. Es gab gemeinsame Rhythmen, allerdings ermutigte ich das Schräge, das dazwischenfuhr und aufrüttelte. Die Kinder mussten aufmerksam bleiben und horchen. Am Ende war es ein recht ordentliches Gekrähe und Geschnauf – und es war schön, denn es hatte Struktur und Sinn.

      Der Lärm begann mit dem Pausengong: Geschnatter, Gekicher, Gerenne und Geschrei, Unordnung – Widerwille in meinem Ohr, der die Nerven bis in meinen Kopf hinein zucken ließ. Einige der Kinder schrillten wie Sirenen.

      Ich war fehl am Platz, das wurde mir jeden Tag deutlicher. Ich sah mich selbst, wie ich die Ohren mit den Händen abschirmte und mich unter dem Geräuschpegel krümmte.

      Auf dem Flur begegnete mir unser Rektor. Ich kannte seinen Vornamen, Burkhardt, doch ich nannte ihn Herrn Marx. Wenn ich an Burkhardt dachte, fielen mir seine leuchtenden Augen ein. Mit diesen Augen stand er auf den Gesamtkonferenzen vor uns, seinem Team, wie er sagte, und ließ uns an seinen Visionen von einer gesunden, anregenden Lernatmosphäre teilhaben. Meine Augen blieben stets matt. Ich hatte genug zu tun mit dem täglichen Überleben.

      Silvia behauptete, Burkhardt und ich wären Seelenverwandte. Ich hätte ein ebensolches Leuchten, sobald meine Finger auf Klaviertasten lägen. Burkhardt schien ebenfalls eine Seelenverwandtschaft wahrgenommen zu haben. Mir war das von Anbeginn lästig gewesen, und ich hatte einige Kraft aufgewendet, um deutlich zu machen, dass ich keinen näheren Kontakt wünschte. Nicht einmal das hatte er mir übelgenommen.

      »Katharina!«, strahlte er mich an. »Will sagen, Frau Manthey! Unsere Gönnerin, die alte Dame Krause, soll wieder in der Stadt sein. Nun kann es doch noch etwas werden mit dem Musikpavillon.«

      Ich nickte höflich und distanziert im Vorübergehen. Nur wenige Meter trennten mich von meinem kleinen Kabuff. Noch einige schnelle Schritte, Tür auf, Tür zu, den Schlüssel umgedreht, aufatmen, Pause und Ruhe. Hierher wagte sich niemand. Die Kolleginnen saßen unten zusammen, wo sie Schulisches und Privates besprachen. Ich war nie dabei und wurde nicht vermisst. Einen Moment rutschte die Erkenntnis dick und schwer durch meine Adern. Ich schloss mich ein und schloss mich aus. Die Gemeinschaft der Menschen fand ohne mich statt. Wie oft ging mir ein Lied durch den Kopf und gab mir Worte für meine Gefühle und Gedanken.

      »Wir sind ganz einfach anders als die Andern …«

      Es waren die Anfangszeilen des Lila Liedes. Die erste deutsche Homosexuellenhymne fügte sich in den Maschinenrhythmus der vergangenen Unterrichtsstunde, und in meinem Kopf formte sich eine Ode an die Arbeit und die Verbindungen unter Menschen.

      »Ich hätte Musikerin werden sollen«, nörgelte es in mir, »das wär’s gewesen.«

      Ich hörte den Zahnarzt spotten, der mein Vater hatte sein sollen. »Dann willst du Noten essen und im Violinschlüssel wohnen.«

      Das hört sich schön an, hatte ich gedacht.

      Natürlich war es nicht so gemeint gewesen.

      »Du willst wohl deiner Mutter nacheifern, aus allem ausbrechen, aber so was ist schwer, mein Kind!«

      Er war verärgert gewesen. Ich hatte verwirrt meine Mutter angestarrt. Sie war doch Zahnärztin wie er! Mutter hatte die Lippen aufeinandergepresst und war meinem Blick ausgewichen. Das war wieder so etwas gewesen, das ich nicht verstanden hatte.

      Ich hatte früh die Vermutung gehabt, dass ich nicht wirklich ihr Kind sein konnte, es gab Hinweise, sie verplapperten sich. Aber zugegeben hatten sie es nie. Ich zuckte die Achseln. Jedenfalls war ich dann Musiklehrerin geworden.

      Ich bin ein ruhiger, zurückgezogener Mensch, dachte ich in meiner kleinen dunklen Kammer, völlig ungeeignet für diese Arbeit. Ich war schon immer ruhig gewesen, geradezu autistisch, und meine große Leidenschaft, die Musik, hatte die Kinder nie wirklich interessiert. Sie wollten Spaß – die Tiefe der Empfindungen entging ihnen. Was sollte ich auch groß erwarten. Es waren Kinder.

      Seufzend ließ ich mich auf dem Klavierhocker zwischen den Trommeln nieder und pellte meine Apfelsine. Mein Blick fiel auf meine Bluse, und ich stellte fest, dass sie schlecht gebügelt war. Missbilligend schüttelte ich den Kopf.

      Warum war ich nicht wie die anderen, saß dort bei ihnen und sprach über das Wetter, den Garten, den Haushalt, neue Anschaffungen und die mangelnde Anerkennung des Lehrerberufs?

      »Weil ich nicht weiß, was ich mit ihnen reden soll«, murrte ich, »weil ich andere Probleme habe.«

      Geldprobleme, Ärger mit dem Partner, Raten für ein Haus, das ich abbezahlte, ein schlechter Friseur – so was kannte ich nicht. Ich hatte nur wenige Probleme. Als ich sie zählte, kam ich auf genau fünf: mein Arbeitsleben, mein Sozialleben, mein Familienleben, mein Liebesleben und dass ich eigentlich gar keine Lust mehr hatte auf mich und mein Leben. Aber ich hing an beidem, und aus diesem Widerspruch ergab sich mein eigentliches Dilemma.

      Es klingelte, gerade als sich die Tragik meines Seins wie ein Schlund vor mir auftat.

      Ich riss mich zusammen; die Apfelsinenschale legte ich ordentlich in ein Regal. Ich sah in den Spiegel, der zu diesem Zweck an der Innenseite der Tür klebte, übte den entschiedenen Blick, der sich nach fünfundzwanzig Jahren Berufsleben noch immer nicht in meinen Augen verankert hatte, bevor ich aufschloss und in den Flur trat.

      »Was haben Sie denn da drinnen gemacht?«, fragte Lisa aus der Sechsten. Sie hatte sich in einer Fensternische versteckt, um die Pause im Schulgebäude verbringen zu können. Ich antwortete nicht. Eine Treppe tiefer kamen mir die Kinder der 2b entgegengelaufen.

      »Machen wir die Musikmassage? Bitte!«

      Einige zupften an meinem Ärmel.

      Ich bin ein ruhiger, zurückgezogener Mensch, dachte ich.

      Als ich nach Hause kam, fühlte ich mich ausgelaugt. Doch kaum trat ich in die ersehnte Stille meiner Wohnung, da schlug mir die Einsamkeit entgegen. Zum Glück hatte ich noch immer den Rhythmus im Ohr, das half. Ich dachte an Amalia, die nichts hatte als ihren eigenen Atem, ihr Herz und die Bewegung der Planeten, und begriff, dass es schwer war.

      Ich hatte immer die Musik gehabt, meine Höhle, in der ich mich versteckte und die mich mit allem verband, sogar mit den Mücken, den Fröschen und dem tropfenden Wasserhahn.

      Amalia war mit der übrigen Menschheit nur verbunden, weil sie auf ihre Kosten lebte.

      »So denken die anderen«, behauptete sie.

      »Oder du«, schlug ich vor – und um sie aufzumuntern, gab ich ihr einen Tipp, wie mit dem selbstgerechten Teil der arbeitenden Bevölkerung zu verfahren wäre: »Wenn dir jemand frech kommt, fragst du, warum er mit seinem lustlosen Hintern einen kostbaren Arbeitsplatz besetzt. Andere würden gern dort sitzen. Soll er doch das glückliche Leben im sozialen Netz an ihrer Statt genießen.«

      Es war schön gewesen, Amalia lachen zu