Eine Milliarde für Süderlenau. Astrid Wenke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Astrid Wenke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783944576008
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Ich reichte ihr die Hand.

      »Es würde mich freuen, Frau Kienzle.«

      »Wenn es sich einrichten lässt«, murmelte sie, »ich hatte einmal eine recht hübsche Stimme.«

      Ich brachte sie zur Tür.

      »Entschuldigung«, sagte sie, »dass ich Sie mit meinen privaten Nöten belastet habe. Manchmal muss ich das einfach loswerden.«

      Ich nickte. Ihr Blick schweifte durch den Raum.

      »Eine recht magere Ausstattung für eine musikbetonte Grundschule. So ist das – dem Staat fehlt das Geld an allen Ecken und Enden. Die Arbeitslosen kosten. Na ja. Wollte Novacrem nicht einen Musikpavillon finanzieren? Was ist daraus geworden?«

      »Hat sich zerschlagen.« Ich sah auf meine Armbanduhr. »Es tut mir leid, ich bin verabredet.«

      Als sie draußen war, klinkte ich die Tür zu. Sicherheitshalber drehte ich den Schlüssel um. Hoffentlich kam sie nicht tatsächlich in den Chor. Nun gut, abwarten.

      Die Aufzeichnung meiner kleinen Komposition war auf dem Notenhalter des Klaviers verblieben. Ich würde zu Hause weiter daran arbeiten.

      Der Musikpavillon – die Idee hatte Burkhardt vor sechs Jahren eingebracht, aber die Stadt hatte ihn abblitzen lassen: »Kein Geld.«

      Erst kurze Zeit zuvor hatten sich die Abgeordneten auf das Recht zur partiellen städtischen Autonomie berufen und Britta vorübergehend von Steuerverpflichtungen entlastet. Novacrem sollte die eingesparten Gelder in den Ausbau der Fabrik investieren und dadurch die Wirtschaft ankurbeln. »So ein Quatsch«, hatte Silvia gemurrt. »Was nützt es der Stadt, wenn Novacrem floriert, solange von dem Gewinn nichts in die öffentlichen Kassen fließt?«

      Mir war das mit der Wirtschaft zu kompliziert, obwohl Silvia immer sagte: »Ach was, man darf sich von denen nicht verwirren lassen. Einfach denken hilft Wunder.«

      Zumindest damit hatte sie recht: Trotz der Ankurbelei blieb auch in den folgenden Jahren nichts übrig für unseren Pavillon.

      Eines Tages war dann der Bürgermeister mit Britta an seiner Seite strahlend in unsere Schulkonferenz hineingeplatzt. Novacrem sei bereit, den Bau eines Musikpavillons privat zu finanzieren. Das Kollegium und die Elternvertreter hatten fröhlich applaudiert, während Burkhardt vergeblich mit den Händen gefuchtelt hatte, um sich Gehör zu verschaffen. Schließlich war er auf einen Stuhl gestiegen, hatte die Hände zu einem Trichter geformt und laut gerufen: »Ich lehne ab!«

      Verblüffte Gesichter, Empörung, in die er drei weitere Sätze sprach: Die Förderung der öffentlichen Bildung sei Angelegenheit der gewählten Stadtvertretung. Sofern Novacrem Geld zu vergeben habe, sollten sie zunächst die Steuern der vergangenen Jahre nachzahlen. Wenn es dazu käme, dass Novacrem bildungspolitische Entscheidungen treffe, sei dies das Aus für die Demokratie.

      Dann Schweigen. Nur Silvia hatte kräftig applaudiert.

      Ich grinste in Erinnerung an diese Szene: Britta im pastellgrünen Kostüm und hohen Hacken, auf denen sie die Kehrtwende vorgenommen hatte, und der Bürgermeister, der, beruhigende Worte murmelnd, hinter ihr her gestolpert war. Silvia hatte an diesem Abend auf einem gemeinsamen Glas Sekt mit Burkhardt und mir bestanden.

      Während ich über diese Begebenheit nachsann, fiel mir die morgendliche Begegnung mit dem Rektor auf dem Flur wieder ein. Mit einem Mal irritierte mich seine Freude über Margots Besuch. Was war anders, wenn, wie Burkhardt zu hoffen schien, die alte Dame an Stelle von Britta den Pavillon finanzierte?

      Ich packte meine Noten, entriegelte die Tür. In der kleinen Kaffeeküche gegenüber dem Lehrerzimmer fand ich nur noch Silvia, die treue Seele. Sie trocknete die Kaffeetassen und sagte: »Da bist du endlich.«

      »Wo ist unser Rektor?«

      »Zu Hause, denke ich. Warum?«

      Ich teilte ihr meine Verwunderung mit, aber sie zuckte lediglich mit den Achseln.

      »Margot ist Margot und Britta ist Britta. Aber frage ihn selbst. Er wird morgen in der Hafenklause sein. Wir haben uns dort verabredet.«

      Ich schob die Unterlippe vor und zog die Brauen zusammen.

      »Du kannst auch kommen«, ergänzte sie nach einem Blick auf mein Gesicht, »aber es wird dich nicht interessieren. Wir treffen uns, um die Kundgebung zur Rettung von Novacrem mitzuverfolgen. Wir werden wohl die Einzigen sein, die nicht teilnehmen.« Sie schnaubte.

      Es wurmte mich den ganzen Weg nach Hause. Was sollte das nun wieder? Schlussendlich war ich die beste Freundin von Silvia. Selbstredend würde ich nicht auf der Kundgebung für eine Firma erscheinen, die Silvia verhasst war. Meine kindliche Anhänglichkeit an Novacrem war überwunden, und ich hatte längst ein reifes Urteil gefällt.

      Womöglich würde ich am Samstagvormittag auf dem Weg zu Josefas Geburtstag zufällig in die Hafenklause stolpern. Das konnte gut sein. Der Tag war ohnehin angefressen, da spielte das keine Rolle mehr.

      Zu Hause angekommen bemerkte ich, dass die Einsamkeit verschwunden war, vertrieben von den Vorhaben, die mir den freien Samstag stehlen würden. Ich setzte mich an mein Klavier. Meine Finger berührten sanft die Tasten, tonlos, der Nachbarn wegen. Ich hörte die Musik auch so.

      Es war mein erster Freitagabend ohne Amalia. Vor einer Woche hatte ich sie kennengelernt und damit die Möglichkeit gewonnen, sie zu vermissen.

      Amalia mochte tanzen gegangen sein.

      In der Landeshauptstadt fand an jedem Wochenende ein queeres Tanzereignis statt oder jedenfalls ein Ball mit offener Atmosphäre. Amalia mochte gerade zu einer der Damen gehen, die allein saßen. Sie mochte ihr zunicken und freundlich um den Tanz bitten. Sollte sie. Sollten sie sich aneinanderlehnen und gemeinsam zur Musik bewegen. Das gehörte nun mal dazu. Nur ansehen durfte sie sie nicht, wie sie mich am vergangenen Wochenende angesehen hatte.

      Ich spürte noch immer ihren Blick in mir nachklingen. Er hatte etwas von der Art gehabt, wie Margot mich ansah, nur dass Amalias Lider nicht über den Rand ihrer Augen hingen wie es bei Margots alten Augen der Fall war und mich rührte. Amalias Blick war unverschleiert und er war ebenfalls tief in mein Inneres gedrungen.

      Ich schüttelte unwillig den Kopf. Es war Blödsinn, Amalia und Margot zu vergleichen, sexuelle Anziehung mit mütterlichem Interesse, Birnen mit Äpfeln. »Th!«, machte ich.

      Eigentlich hatte ich nach dem Ball zurückfahren wollen nach Süderlenau. Dann war ich das ganze Wochenende bei Amalia geblieben. Am Samstagvormittag hatten wir Unterwäsche und eine Zahnbürste für mich gekauft. Danach waren wir wieder ins Bett gegangen.

      Am Sonntag spätabends hatte ich ihr meine Telefonnummer und meine E-Mail-Adresse gegeben und war abgereist.

      Ob etwas daraus werden würde? Sicherheitshalber bezweifelte ich das. Aus meinen Geschichten war nie etwas geworden. Mich zog es zu den falschen Frauen – solchen, die nie mehr wollten oder nicht mehr konnten als eine Affäre. In gewisser Weise kam mir das entgegen – wenn nur die Sehnsucht nicht gewesen wäre.

      Geräuschvoll klappte ich den Klavierdeckel zu, stand auf, dass der Hocker kippte und erst nach einigem Gewackel wieder zur Ruhe kam, ging zum Computer. Ich hatte mein Postfach seit einer Woche nicht gecheckt, hatte Vorsicht walten lassen, nachdem ihr Anruf ausgeblieben war.

      Recht hatte ich damit gehabt! – Ich fuhr die Maschine unverrichteter Dinge wieder herunter. Man sollte Aufregungen und Enttäuschungen vor dem Zu-Bett-Gehen vermeiden.

      Das bunte Päckchen klapperte unter meinem Arm. Bei jedem Besuch ergänzte ich das Rohmaterial, aus dem Josefa und ich unsere Welten schufen. Zu ihrem Geburtstag hatte ich neben einfachen Stecksteinen solche besorgt, die Tiere und Blumen symbolisierten. Josefa würde lachen vor Freude. Ich nahm die Treppe zum Hafen als Tastatur und hüpfte auf den Halbtönen hinunter zum tiefen Cis. Die weißen Tasten übersprang ich – gewagt war das.

      Der Blick auf unser Hafenbecken. Die Fischer waren bereits am frühen Morgen auf See gefahren. Nur ein Boot lag vor Anker. Die Netze waren zum Trocknen in der Sonne ausgelegt. Weiter den Kai entlang und