Eine Milliarde für Süderlenau. Astrid Wenke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Astrid Wenke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783944576008
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schlenderte hinüber zur Hafenklause, wo Silvia aufgesprungen war und winkte.

      »So ein Zufall. Ich bin auf dem Weg zum Geburtstag meiner Nichte.«

      Sie machten mir bereitwillig Platz, doch Silvia legte gleich darauf den Finger auf den Mund.

      »Psst!«

      Britta hielt eine Ansprache, und die Lautsprecher trugen ihre Worte bis hinüber zu uns Abweichlern. Es war von Verantwortung und der engen Bindung zwischen Süderlenau und Novacrem die Rede. Novacrem würde den Ort nicht verlassen, wenn es nicht nötig war. Es bedurfte gemeinsamer Anstrengungen und gegenseitigen Entgegenkommens. Man würde Opfer bringen müssen. Entlassungen ließen sich nicht vermeiden.

      »Sieh dir diese Masse von Leuten an.«

      Silvia schürzte kopfschüttelnd die Lippen, während drüben die Menschen klatschten und sanft mit Transparenten und Plakaten winkten.

      »Novacrem muss in Süderlenau bleiben!« – »Arbeit schafft Heimat!« – »Heimat braucht Arbeit!« und all solche Sprüche.

      »Jetzt seid ihr da«, grollte Silvia, »wo wart ihr ’71– das frage ich. Überall gab es Proteste, nur in Süderlenau blieb alles ruhig.«

      Ich musste nun doch grinsen.

      »’71 ist lange her.«

      Silvia schnaubte nur: »Als hätte sich was geändert – ha! Ach was.«

      »Wie hat Margot es durch euer moralisches Raster geschafft?«, kam ich auf mein Anliegen zu sprechen. »Sie hat ihre Millionen im Sexgeschäft gemacht.«

      Silvia bedachte mich mit einem finsteren Blick.

      »Margot hat sich aus ärmlichen Verhältnissen hochgearbeitet! Du willst sie nicht ernsthaft mit einem verwöhnten, eingebildeten Geschöpf der selbsternannten gehobenen Klasse wie Britta in eine Schublade stecken!«

      »Hmh!«

      Ich wandte mich an Burkhardt, der außer ›Guten Morgen‹ noch nichts gesagt hatte und unser Wortgefecht aufmerksam verfolgte.

      »Wenn eine sich hochgearbeitet hat, ist es in Ordnung, wenn sie durch Sponsoring die Bildungspolitik unserer Stadt bestimmt?«

      Burkhardt errötete. »Na ja, Margot hat als Geschäftsfrau gewisse Grenzen des Anstandes nie überschritten. Die Bordelle, die sie geführt hat, waren für ihre fairen Arbeitsbedingungen bekannt. Mittlerweile beschränkt sie sich auf die Massenproduktion von Sexspielzeugen, und ihr Unternehmen gilt hinsichtlich der Entlohnung und Gestaltung der Arbeitsplätze als vorbildlich.«

      »Aha? Faire Unternehmer dürfen die Demokratie aushebeln«, stellte ich fest.

      Sein Ringfinger trommelte auf dem Tisch. »Das hat mit Demokratie nichts zu tun, sondern mit Pragmatismus.«

      Silvia lachte. »Opportunismus ist das treffendere Wort, Burkhardt! Obwohl ich deine Haltung verstehe.«

      »Gut«, lenkte er ein. »Mein Opportunismus reicht bis zu Margot, aber nicht bis zu Britta. Ich habe im Internet recherchiert, Zeitungsartikel gelesen …«

      Sein Gesicht wurde zunehmend röter.

      »Im Grunde ist es so: Ich habe gewissermaßen eine persönliche Geschichte mit Margot Krause – und ein persönliches Gefühl von Vertrauen.«

      Ich bemerkte, wie ein Wurm durch meine Eingeweide kroch. Es fühlte sich an wie in meiner Kindheit, wenn die Mutter Hilmar mit diesem liebevollen Blick in die Augen nahm und ›mein Junge‹ sagte, während ich mit Hunger in der Seele danebengestanden hatte.

      »Wieso haben Sie eine persönliche Geschichte mit Margot?«, platzten die Worte zwischen meinen Lippen hervor.

      Burkhardt hob seine Hand, als wollte er sie beruhigend auf die meinige legen. Vorsorglich zog ich meinen Arm vom Tisch, ließ die Hand gut geschützt neben meinem Stuhl baumeln. Burkhardt schwieg einen Moment, bevor er ansetzte:

      »Ich war ebenfalls nicht begeistert, als Margot Jahre später besuchsweise nach Süderlenau zurückkehrte und mich dann stets linksliegen ließ. Stattdessen hatte sie einen Narren an dem musikalischen Wunderkind unserer Stadt gefressen.«

      »Tss!«, machte ich.

      Silvia beobachtete uns amüsiert.

      Er beugte sich vor: »Ich erzähle Ihnen gern, welche Rolle Margot in meinem Leben gespielt hat, aber wenn wir nun so privat werden, bestehe ich darauf, endlich zum Du überzugehen. – Burkhardt …« Er streckte mir seine Rechte entgegen. Die Kauflächen meiner Zähne mahlten gegeneinander.

      »Nach all den Jahren«, ermunterte er mich.

      »Katharina«, brachte ich widerstrebend hervor, während ich seine Hand ergriff. Schmale Finger umfassten mich warm, fest und trocken. Ich ließ los.

      »Dass du dich erpressen lässt.« Silvia schüttelte den Kopf, bevor sie sich von mir abwandte und Burkhardt aufforderte: »Nun aber raus mit deiner Geschichte.«

      »Mein Vater hatte eine Affäre mit Margot«, eröffnete er.

      »Da war er kaum der Einzige. Mit so einer mageren Story erschleichst du dir das Du von Katharina?!«

      »Mein Vater hat wenig Zeit mit mir verbracht; meistens hatte er mit seinen Aufgaben als Direktor der Bank von Süderlenau zu tun, selbst an den Wochenenden. Wenn er einmal zu Hause war, war er müde und zu nichts zu gebrauchen, wie meine Mutter sagte. Womöglich hatte ihn die Affäre mit Margot zusätzlich erschöpft. Dennoch: Er liebte meine Mutter und hing an ihr. Ich denke, es war, weil sie ihn kannte. Mit Margot muss es etwas völlig anderes gewesen sein. Er hat sie gewissermaßen bezahlt für die Beziehung. Es war etwas Sexuelles natürlich, und er wird sich jung mit ihr gefühlt haben, unbeschwert. Keinesfalls hätte er für sie seine Ehe riskiert.«

      »Du kennst dich gut aus mit den Affären deines Vaters«, mokierte sich Silvia.

      »In Grenzen«, erwiderte er, »aber tatsächlich, nach dem Tod meiner Mutter hatte er das Bedürfnis, mir zu beichten.«

      »Und was hattest du mit Margot zu tun?«

      Ich schob den Unterkiefer vor. Silvia legte mir ihre Hand auf den Unterarm, der inzwischen auf den Tisch zurückgekehrt war.

      »Mein Vater hatte häufig den Wunsch, mit seiner jungen Geliebten zu verreisen. Meine Mutter nahm ihm die vielen Geschäftsreisen irgendwann nicht mehr ab, und so ist er auf die Idee mit mir gekommen. Angeblich um das Vater-Sohn-Verhältnis zu festigen, hat er mich regelmäßig zu einem langen Wochenende entführt. Die intensivsten Erinnerungen an meinen Vater habe ich von diesen Ausflügen. Wir sind schwimmen gegangen, haben Fußball gespielt und Baumhütten gebaut – alles, was ein Sohn sich von seinem Vater wünschen kann.

      Margot war noch blutjung damals, zwanzig vielleicht, und spielte die junge Mutter. Sie hat uns Getränke hingestellt, für anständiges Essen gesorgt und mir am Abend vorgelesen. Ich vermute, diese Aufgaben waren ihr angenehmer als die anderen, die sie übernahm, wenn ich in meinem Kinderbett eingeschlafen war. Im Nachhinein erscheint mir das Ganze wie ein großangelegtes Rollenspiel, in dem wir alle unsere Sehnsüchte unterbrachten.«

      Silvia hob die Augenbrauen. »Nun, in Margots Fall handelte es sich wohl mehr um handfeste Interessen.«

      Burkhardt biss sich auf die Lippe. »Sie spielte gern«, beharrte er und fuhr fort: »Meiner Mutter durfte ich nichts von Margot erzählen. ›Dann ist es mit den Ausflügen vorbei‹, hatte Papa mir eingeschärft.

      Irgendwann ist es dann wirklich vorbeigewesen. Das war, als Margot ihr rundes Bäuchlein bekam. Ich hatte mich gewundert, wie viel sie nur gegessen haben mochte. Da hat sie mir zugeblinzelt. ›Das ist nicht vom Essen. Wahrscheinlich wohnt ein Geschwisterchen von dir in meinem Bauch.‹

      Papa hat das gehört – ich nehme an, das wollte sie so. ›Nein‹, hat er gesagt. Das war’s. Ich habe Margot danach Jahre nicht mehr gesehen.«

      Ich hatte keinen Seelenraum frei für Burkhardts Verletzung. Stattdessen warf ich die Information