Eine Milliarde für Süderlenau. Astrid Wenke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Astrid Wenke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783944576008
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Ich stellte mir vor, wie er nun, während er die Kupplung kommen ließ, mürrisch Mund und Stirn verzog. Der Wagen wendete, fuhr wenig später an uns vorüber, und für einen Moment trafen mich Margots Augen, nachdenklich und interessiert, um mir gleich darauf zu entgleiten; die Taxe brauste weiter, nur noch die Hinterköpfe der Insassen waren zu sehen.

      »Dieser Altersunterschied!«

      Unter Silvias schriller Stimme zersprang das Bild von Margots ruhigem Blick.

      Wenn nur diese Stimme nicht wäre – das hatte ich schon oft gedacht in dem Vierteljahrhundert, das ich mit Silvia befreundet war.

      »Das kann auf Dauer nicht gutgehen.«

      Dieses Gespräch gehörte zu unserem eingeübten Repertoire, zu dem ich widerwillig und gelangweilt meinen Text lieferte: »Immerhin sind sie seit vierzehn Jahren verheiratet.«

      »Trotzdem – er sieht zu gut aus für sie.«

      »Solange Britta Firmeneigentümerin ist und das Geschäft gut läuft, wird er bei ihr bleiben.«

      Die Worte verließen ohne mein Zutun meinen Mund. Ich fragte mich zum wiederholten Male, was Silvia an der Ehe dieser Leute interessierte.

      »Die Firma!« Silvia lachte auf. »Du solltest endlich anfangen, Zeitung zu lesen.«

      Irritiert holte ich meine Augen aus der Ferne zurück und stellte auf Silvia scharf, die so unerwartet aus unserem üblichen Gesprächsverlauf ausgebrochen war.

      »Novacrem steht vor dem Aus.«

      Vergnügt nahm Silvia einen Schluck aus ihrer Tasse. Dann verzog sie den Mund und fügte hinzu: »Das behauptet zumindest Britta. Sie überlegt, das Werksgelände zu verkaufen und die Firma an einen anderen Ort zu verlegen, wo Arbeitskräfte billiger zu haben sind. Allerdings frage ich mich, warum sie öffentlich darüber räsoniert, statt es zu tun.«

      »Novacrem verlässt Süderlenau!«

      Silvia hörte das Entsetzen in meiner Stimme.

      »Dich schockiert das. Das hätte ich mir denken können! Mach dir keine Sorgen, Katharina. Vermutlich handelt es sich um einen der Schachzüge von Britta, mit denen sie die Stadt unter Druck setzt.

      Übrigens findet am Samstag eine große Kundgebung statt. ›Novacrem muss bleiben!‹ Die ganze Stadt ist aus dem Häuschen. Du solltest hingehen.«

      Missbilligend sah sie mich an.

      Silvia litt geradezu verzweifelt an dem Unrecht auf der Erde und an den Grausamkeiten der Menschen. Wenn Silvias Welt ein Puzzle war, so war »Gewalt« das Teilchen, das sich beim besten Willen nirgends einfügen ließ. Sie hatte früh vor der furchtbaren Frage gestanden, ob das Bild einer wahrhaft menschlichen, einer gewaltfreien Gesellschaft, wie sie es sich zum Trost erschaffen hatte, tatsächlich unmenschlich war, da es die Möglichkeiten der Menschen überstieg. Allerorten stellten Verbrechen gegen die Menschlichkeit Silvias Hoffnung in Frage, summierten sich zu der Behauptung, das Gewalttätige, die Verachtung und Erniedrigung von Menschen müsse als Bestandteil des Menschseins angenommen werden.

      Um diesen Konflikt zu lösen, das hatte Silvia mir vor langer Zeit anvertraut, hatte sie Geschichte studiert. Irgendwo dort, zwischen den Ruinen untergegangener Städte, unter den Werkzeugen und Waffen aus Bronze und Stein, unter Moorleichen und den Skeletten von Wollnashörnern und Mammuts hoffte sie Klarheit zu finden über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten unserer Gattung. Inbegriff des Unmenschlichen war ihr die Fabrik in Süderlenau geworden.

      Eben zu der Zeit, als Silvia vierundzwanzigjährig nach Süderlenau kam, um an der hiesigen Gesamtschule ihr Referendariat anzutreten, war Novacrem in die Schlagzeilen geraten. Das Mittel, um das es anno dazumal ging, hieß Fairytale, ein Hautaufheller, den Novacrem auf dem afrikanischen Markt vertrieb. In einer massiven Werbekampagne hatte Novacrem die Möglichkeit, zu Wohlstand und Erfolg zu gelangen, mit der Aufhellung der afrikanischen Haut verknüpft und war mit dieser Strategie vor allem in den größeren Städten Afrikas erfolgreich gewesen.

      Der Wirkstoff von Fairytale war Hydrochinon, das die Bildung von Melanin und damit ebenso das Dunkeln der Haut wie den Schutz vor der UV-Strahlung der Sonne unterdrückte. In der Presse waren bald kritische Berichte erschienen und Fotos veröffentlicht worden: Nach der Anwendung des Mittels waren bei vielen Menschen schwere Hautverbrennungen aufgetreten. Schon nach einem knappen Jahr stellten Statistiken einen Zusammenhang zwischen der Verwendung von Fairytale und dem Auftreten von Hautkrebs fest.

      »Es war nicht der Arzneimittelskandal an sich, der mich empörte«, sagte Silvia stets an dieser Stelle ihres Vortrags. »Aber sie haben jeden Zusammenhang zwischen den Erkrankungen und ihrem Mittel abgestritten, haben ihre Kampagne fortgeführt, haben weiter verkauft und weiter verdient.«

      Ich hatte mich damals mit den Grausamkeiten der Welt noch nicht beschäftigt und sagte nichts weiter als ›Hmh‹.

      Silvia war eine Zugezogene. Sie konnte nicht begreifen, was Novacrem für die meisten von uns in Süderlenau bedeutete. Ich liebte diese Fabrik! Wenn es eine Verbindung von Süderlenau in die Welt gab, dann war es Novacrem. Sogar der Bahnhof war nur gebaut worden, weil Novacrem darauf bestanden hatte. Von Süderlenau fuhr die Bahn nach Klaschnitz, von dort zur Landeshauptstadt und von dort ging es weiter in die Welt, nach Hamburg, Köln, München und Berlin.

      Vom Balkon der zahnärztlichen Familienwohnung, in der ich aufwuchs, sah ich direkt zur Fabrik hinüber. Gelegentlich stiegen Schwaden von Wasserdampf auf, und zuweilen wehte ein süßer Duft zu mir herüber. Ich war sicher, dass in jenem eckigen Backsteinbau mit dem Flachdach ungewöhnliche, geradezu zauberhafte Dinge vor sich gingen. Es gab kein anderes Flachdach in Süderlenau. Die Fabrik war eine Geheimschachtel. Es lockte mich, sie aufzureißen und ihr Geheimnis zu enthüllen.

      Gewaltige Fenster, von geschmiedeten Verstrebungen in eine Vielzahl von Rechtecken zergliedert, verführten zum Spionieren. Vier dieser Fenster reichten bis nah an den Boden. Darüber durchbrach eine weitere Fensterreihe die rote Hausmauer. Zwischen den inneren und den seitlichen Fenstern des beinahe quadratischen Gebäudes waren lange Backsteine eingefügt worden, die hervortraten und sich als Schmuckband bis zur Oberkante der zweiten Fensterreihe hinaufzogen. Diese Steine nutzte ich als Leiter. Ich weiß noch, wie ich mich festkrallte, den Körper stets dicht an der Mauer. Meine Füße tasteten nach Halt. Ich stemmte mich hoch, bis ich den Stein, an dem ich klammerte, loslassen musste, um nach dem nächsten Vorsprung zu greifen.

      Am gefährlichsten war es, wenn ich oben angekommen war. Dann musste ich mich seitlich hinüberlehnen und hielt mich nur noch mit einer Hand an einem herausragenden Ziegel fest. Mein Herz pochte in wilder Erregung. Angst hatte ich nicht, denn in jenen Zeiten war ich unsterblich. Wenn schließlich der Blick durch das Fenster gelang, lag tief unter mir die gewaltige Maschinerie: große eiserne Räder, Stangen und Kolben, lange Transportbänder, die durch die Halle liefen. Dazwischen standen mehrere silbern glänzende riesenhafte Behälter. Mittendrin schoben Menschen Lastkarren über den Betonfußboden der Halle oder hantierten an den Bändern. Wie unbedeutend sie schienen gegenüber der Macht der Gerätschaft!

      Die Sahne auf der ganzen Szenerie war die Musik. Das Quieken, Brummen und Summen der Maschinen, ungeordnet, ein wildes Gerede, dann wieder im gemeinsamen Rhythmus, aus dem sich die Stimme mal der einen, mal der anderen Maschine hervorhob.

      Natürlich konnte ich das Ganze ebenso gut auf festem Boden stehend durch die unteren Fenster betrachten. Dann hatte ich sogar die Hände frei, um die Spiegelung der Sonne abzuschirmen. Der wahre Genuss blieb jedoch der Blick von oben, in fünf Metern Höhe an der Hauswand hängend, erkauft mit Anstrengung und Gefahr.

      Es war eine große Enttäuschung, als ich erfuhr, dass Britta, jenes große Mädchen, das ich auf dem Spielplatz traf und später auf dem Schulhof, die Tochter des Besitzers von Novacrem war. Ich hatte mir nie vorgestellt, dass es eine Tochter des Besitzers geben könnte, aber wenn es sie gab, hätte sie eine Prinzessin sein müssen, zart und im rosa Kleid, umgeben von einem süßlichen Duft.

      Britta war nichts davon, sie war grob und gemein und das insbesondere zu mir. Als ich in die Schule kam, sah ich sie gleich in meiner ersten Hofpause an einem Baum lehnen, als hätte sie