Eine Milliarde für Süderlenau. Astrid Wenke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Astrid Wenke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783944576008
Скачать книгу
mein Zutun in meinem Inneren weiter wuchs und sich formte. Am Herzschlag bewies sich der Arbeitsrhythmus. Der hektische Puls der Arbeit würde am menschlichen Herzen scheitern. Er weigerte sich, sich ins menschliche Maß zu fügen und schlug gegenan. Es war das Herz, das sich angleichen musste. Mir fiel es wie Wattestopfen aus den Ohren: »Daher die Herzrhythmusstörungen!«

      Ich griff mir einige Blätter Notenpapier aus der Schreibtischschublade und legte los.

      Es war das Telefon, das alles zerstörte. Ich hätte es längst abgeschafft, wäre da nicht die trügerische Hoffnung gewesen, die Liebe könnte mich anrufen wollen. Die Liebe hätte eine tiefe, ruhige Stimme und viel Stille. Ich sagte mir, dass Amalia geeignet wäre, die Rolle der Liebe zu spielen. Die real existierende Stimme am Telefon war eindeutig fehlbesetzt. Es war Heidrun. Heidrun hatte die große Liebe längst gefunden, sogar geheiratet. Sie liebte Hilmar, den Zahnarztsohn, meinen Bruder.

      »Hallo, Heidrun«, sagte ich. Ich bereute meine Trägheit, die mich seit Jahren davon abhielt, mir zumindest ein moderneres Gerät anzuschaffen, mit Display, auf dem die Nummern der Anrufenden erschienen. Da hätte ich gar nicht erst abgenommen. Andererseits wäre es vermutlich vergebene Mühe gewesen. Ich hielt Heidrun für ausgefuchst genug, ihre Nummer zu unterdrücken.

      »Hallo, Schwägerin! Wie geht es dir?«

      »Och«, sagte ich.

      »Da kommst du wohl gerade aus der Schule?«

      Ich spürte, wie sie lächelte. Heidrun war schon eine Nette, erinnerte ich mich. Es war kein leichter Job für sie, die Beziehungsarbeit in unserer Familie zu erledigen. ›Nein‹, meinte Heidrun stets, ›leicht ist das nicht, aber es lohnt sich.‹

      Jetzt tönte sie im Dienst dieser höheren Aufgabe: »Josefa freut sich schon sehr auf den Geburtstagsbesuch ihrer Lieblingstante.«

      Mir weitete sich der Gehörgang. Daher kam der Sirenengesang. Josefas Geburtstag! Heidrun wollte sicherstellen, dass ich kam. Ich hatte die Einladung bereits vollständig vergessen gehabt und mich frei gefühlt.

      »Ja«, antwortete ich gepresst, »wir sehen uns Samstag. Bis dann, Heidrun.«

      Sie lachte.

      »Wir freuen uns«, schallte es aus dem Hörer, während ich ihn zurück auf die Gabel legte.

      Meine Zähne mahlten hinter verschlossenen Lippen. Freie Zeit zerbröselte unter meinen Gedanken. Es war Freitag, und ich sollte abends zum Elternsprechtag anwesend sein. Völlig überflüssig – wer wollte schon mit der Musiklehrerin reden, aber Burkhardt hatte mit strahlenden Augen den Plan gefasst, unseren Musikbereich aufzuwerten. Mir wäre meine Ruhe lieber gewesen. Hätten sie mir zur Aufwertung besser meinen Raum zurückgegeben. Die Schule platzte aus allen Nähten, und der Musikraum war vor einem Jahr ein Klassenraum geworden. Das Klavier stand noch dort – wo hätte es hinsollen – und erinnerte an bessere Zeiten.

      Am Elternabend sollte ich nun zum Schein in diesem Raum residieren. Ich dachte mir, dass wohl keiner kommen würde und ich mich ans Klavier setzen könnte. Das wäre dann fast wie zu Hause, besser sogar. Das Schulklavier war ein Geschenk von Margot und hatte einen fantastischen Klang. Beinahe freute ich mich darauf.

      Es kam dann anders: Meine Finger bewegten sich in einem flotten Tastenlauf. Ich probte die Melodien, die ich auf die Arbeitsrhythmen legen könnte, als Kathrin Kienzle mit »Guten Abend, Frau Manthey« den Raum betrat. Ich sah auf die Uhr an der Wand. Wie erwartet war bis dahin niemand gekommen. Vielleicht hatten die Eltern mich spielen hören und beschlossen, nicht zu stören. Nun stand Kathrin Kienzle da. Langsam sog ich die Luft durch die Nase, lächelte und reichte ihr die Hand. »Guten Abend.«

      Noras Freund Patrick hatte öfter von Frau Kienzle erzählt. Nora kannte ich aus dem Chor. Patrick war arbeitslos, und Frau Kienzle war die Dame von der Agentur für Arbeit. Sie hatte ihm einen gemeinnützigen Job verschafft, mit dem er seine Stütze um einige Euro ergänzte.

      »Der Job ist in Ordnung«, hatte Patrick erklärt, »die Frau nicht.«

      ›Exemplarisch‹, wie er sagte, hatte er uns von einer sonntäglichen Begegnung im Stadtpark berichtet. Kathrin Kienzle hatte auf einer Bank gesessen – ›griesgrämig, wie immer‹. Patrick, der in der Nähe mit dem Müllpicker unterwegs gewesen war, hatte ihr höflich einen guten Tag gewünscht. Sie hatte die Hand gehoben – nicht zum Gruß, sondern um ihm die leere Bäckertüte entgegenzuwerfen. ›Damit Sie Ihren Job behalten können.‹

      »Ich wusste wirklich nicht, wie ich reagieren sollte«, erzählte Patrick mit bewegtem Gesicht.

      »Verteilen Sie besser nicht zu viele Ein-Euro-Jobs, sonst werden Sie am Ende alle Arbeitslosen und mit ihnen Ihre Arbeit los«, hatte er endlich geantwortet. So wie seine Brauen sich zusammenzogen und sein Atem stoßweise ging, als er uns an seiner Erniedrigung teilhaben ließ, hatte es ihm nichts genützt.

      »Sie hält sich für was Besseres, die dumme Kuh.«

      Frau Kienzle nahm auf einem der Schülerstühle Platz, ich ihr gegenüber. Ich hatte mich kaum niedergelassen, da legte sie schon los.

      »Sie wissen, ich bin berufstätig und habe wenig Zeit für meine Tochter. Da nutze ich den Elternabend, um zu erfahren, wie Maja sich so macht.«

      Ich dachte nach – Maja Kienzle, 6b …

      »Nun«, sagte ich, »aus meiner Sicht brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Sie ist mit Freude im Unterricht dabei, kann gut mit den anderen Kindern zusammenarbeiten, und auch was die Einhaltung der Unterrichtsregeln angeht, gibt es keine Probleme.«

      Sie seufzte.

      »Mir tut es oft leid um das Kind, weil ich doch so eingespannt bin, und nach der Arbeit fühle ich mich erschöpft. Täglich gescheiterte Existenzen um mich herum. Nur Forderungen stellen, das können sie. Wenn ich deren Zeit hätte …«

      Ich hörte sie ausatmen.

      »Was dann?« Das interessierte mich. »Was würden Sie tun, wenn Sie Zeit hätten?«

      Ihre Stimme klang kraftlos.

      »Ich weiß es nicht. Vielleicht wäre ich dann glücklicher, hätte mehr Energie für alles. Ich bin so deprimiert, wissen Sie. Ich habe es mit dem neuen Produkt von Novacrem versucht – Johannisplus. Es hat nicht geholfen. Die ziehen den Leuten das Geld aus der Tasche. Man kann froh sein, wenn es nicht schadet. Na ja.«

      »Novacrem soll schließen«, entfuhr es mir.

      Sie hob abwehrend die Hände.

      »Nur das nicht! Eine Katastrophe für unsere Stadt! Ich jedenfalls werde zur Kundgebung gehen.«

      Ich dachte an Silvia und wandte ein: »Wenn Novacrem doch den Menschen schadet und ihnen das Geld aus der Tasche zieht …«

      Sie lächelte. »Frau Manthey, wären Sie in meinem Beruf, würden Sie anders reden. Novacrem schafft Arbeitsplätze. Das ist das Entscheidende.«

      Ich überlegte, ob ich damit bei Silvia durchkommen würde. Ich kannte ihre Erwiderung: ›In dieser Logik sollten wir Subventionen für Diebstahl und Vandalismus fordern, weil sie die Wirtschaft beleben. Menschen brauchen keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Menschen brauchen Betätigung.‹

      Also sagte ich »hmh« zu Frau Kienzle und sah sie an.

      »Sie verstehen das nicht«, erklärte sie mir. »Wenn man das jeden Tag sieht, diese Arbeitslosen, da kriegt man es mit der Angst zu tun. Sicherlich, meine Ausbildung ist gut, ich habe auch Umgangsformen. Bisher habe ich es immer geschafft, Maja und mich durchzubringen, aber was heißt das schon. Ich schlafe schlecht, wer weiß, wie lange ich so durchhalten kann, da kann man schnell abrutschen. Neulich sagte eine meiner Kundinnen: ›Ihr habt eure Berechtigung doch auch nur durch uns.‹ Na, der habe ich Saures gegeben. Dennoch …«

      Sie tat mir leid.

      »Machen Sie sich keine Sorgen um Maja«, wiederholte ich. »Vielleicht finden Sie etwas, das Ihnen und Ihrer Tochter gemeinsam Freude bereitet. – Maja singt sehr gern«, fiel mir ein. »Vielleicht kommen Sie mit Ihrer Tochter in unseren