Eine Milliarde für Süderlenau. Astrid Wenke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Astrid Wenke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783944576008
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gelernten Text herunterleiert.

      »Deine Mutter hatte sich in die Idee verrannt, du wärst ein Kuckucksei. Sie war furchtbar eifersüchtig. Ich hatte ihr Anlass dazu gegeben – nur was dich anging, täuschte sie sich.«

      Er stemmte sich ein wenig hoch, als wollte er sich zu einem imaginären Gesprächspartner vorbeugen.

      »Mit dir hatte das nichts zu tun, Katharina«, schimpfte er, »und darum geht es dich gar nichts an.«

      Ich nickte, obwohl er mich nicht sehen konnte. Er ließ sich in den Sitz zurücksinken, legte die Hände in den Schoß.

      »Du hast ganz recht gehabt. Du bist nicht unser leibliches Kind. Wir haben dich adoptiert.«

      Stille.

      »Du hast es gewusst, nicht wahr?«

      »Ich weiß nicht.« Ich hörte mich krächzen. »Wohl eher vermutet.«

      »Es tut mir leid«, behauptete er kühl und fuhr im gleichen Tonfall fort: »Du bist dennoch immer unser Kind gewesen. Wir haben dich beide geliebt, deine Mutter ebenso wie ich. Ich habe das selbst erst spät begriffen, aber so ist es gewesen.«

      »Hmh.« Ich verkniff es mir »Na und?« zu sagen, doch es kostete mich Kraft. Ich dachte wieder an diesen Gorilla, dem ich als Fünfjährige im Zoo begegnet war. Der Gorilla lebte zum Zeitpunkt unseres Zusammentreffens in einem Gehege, das keinerlei Rückzugsmöglichkeiten bot, so dass er den zudringlichen Blicken der Besucher schutzlos ausgeliefert war. Sie zeigten auf ihn und lachten, während er sich gegen Mauern drückte und hinter dem einen schmalen Baum zu verbergen suchte. Als er die Zähne fletschte, lachten sie härter. Am Ende griff er nach seinem Kot, schleuderte ihn gegen die Peiniger, und so gelang es ihm endlich, die Gaffer auf Abstand zu treiben.

      Ich wollte nicht mit Dreck werfen, aber ich würde es tun, wenn ich nicht auf andere Art entkommen konnte.

      »Du schaffst den Rest deines Weges allein?«, fragte ich und entschied mich für einen Hauch Ehrlichkeit. »Das ist alles ein bisschen viel für mich.«

      Er nickte, hielt mir die Hand hin. »Auf Wiedersehen, mein Kind.«

      »Wiedersehen, Papa.« Plötzlich standen meine Augen unter Wasser. Ätzend fand ich das.

      Es ging wieder los, das merkte ich noch auf dem Weg nach Hause. Ich vertraute meinem Gleichgewichtssinn nicht mehr und befürchtete hintenüberzukippen, mit dem Hinterkopf auf dem Erdboden aufzuschlagen. Die beschämende Vorstellung, ich könnte in dieser Situation, die meine grundlegende Unzulänglichkeit preisgab, gesehen werden.

      »Ruhig!«, mahnte ich mich.

      Meine Lungen erwiesen sich als unfähig, die Luft aufzunehmen. Ich spürte, wie mein Herz in unregelmäßigen Abständen einen Schlag ausließ und der Blutdruck abflaute. Ein Schwindelgefühl ergriff mich. Ich wischte mir über das Gesicht und betrachtete irritiert die fremde Hand, die an meinem Körper hing.

      »Du kennst das«, sagte ich mir.

      Ich würde nun gemächlich nach Hause gehen. Wenn alles nicht half, würde ich den Wein entkorken, der zur Sicherheit in der Vorratskammer stand. Seit mehr als einem Jahrzehnt war ich ohne das ausgekommen – verdammte Scheiße!

      In der Wohnung angekommen, riss ich die Fenster auf, legte mich dann auf das Sofa, um mir das Atmen zu erleichtern. Was war schon passiert? Ich hatte immer gewusst, dass ich nicht zu ihnen gehörte. Nun war es gewiss: Ich war adoptiert worden, und die Adoptivmutter hatte mich gehasst.

      Ich sagte es laut, weil es wahr war. Mir wurde klar, dass ich mich immer auf mich hatte verlassen können. Ich hatte es geahnt und recht behalten.

      Salziges Wasser verätzte mir die Augen. Damit, das wusste ich, war der Anfall überstanden. Kein Alkohol, auch diesmal nicht, ich hatte es geschafft.

      »Besser Tränen aus den Augen als Angstschweiß aus den Poren«, überlegte ich und ging in die Küche, um meinen Tränendrüsen Nachschub zu liefern. Mir war noch sehr zittrig zumute.

      »Hurra, ich lebe noch!«

      Ich stand da, ein gefülltes Glas in der Rechten. Ich machte mir klar, dass Samstag war, siebzehn Uhr. Ich hatte Feierabend, und ich war frei.

      Es schien wichtig, etwas zu tun, das mich auf andere Gedanken brachte, und so entschied ich, meine Mails zu checken: Wer dem Tod entronnen ist, kann eine Enttäuschung in der Liebe verkraften.

      In meinem rückenfreundlichen grauen Schreibtischstuhl kniend fuhr ich den PC hoch. Ich loggte mich mit dem Kennwort »Monika« ein, das nun schon mehrere Monate alt war und längst nicht mehr wahr. Ich sollte es ändern.

      Ich drückte auf ›Posteingang‹.

      Sechs Mails von Amalia – eine Mail für jeden Tag, an dem wir uns nicht gesehen hatten. Ich öffnete die Jüngste der Nachrichten. Sie war kurz: »Du antwortest mir nicht, und ich weiß nicht warum. Heute ist Samstag, wir haben uns vor acht Tagen kennengelernt. Ich werde in die Bar gehen, in der ich dich zum ersten Mal gesehen habe, und an dich denken. Amalia.«

      Eine ganze Weile verharrte ich, auf den Bildschirm starrend, bevor ich den Computer herunterfuhr. Ich steckte eine Zahnbürste und Unterwäsche ein, ging zum Bahnhof, setzte mich an den Bahnsteig und wartete auf den nächsten Zug.

      Spät in der Sonntagnacht kehrte ich zurück.

      Den ganzen Montag blieb ich erfüllt von der Zeit mit Amalia. Ihr ungläubiges Gesicht, als ich in der Bar aufgetaucht war. Sie hatte keine Zeit mit Vorwürfen verschwendet, war auf mich zugekommen und hatte mich in die Arme genommen. Danach hatten wir Stunden miteinander getanzt, und ich war in ihrer Nähe, der Musik und unseren gemeinsamen Bewegungen versunken. Viel später hatten wir geredet. Ich bin sonst nicht der mitteilsame Typ – nur bei Silvia quatsche ich mich manchmal aus, weil wir uns nun mal so ewig kennen –, aber da war wieder das Interesse in Amalias Augen gewesen, zumindest etwas, das dem ähnlich sah. Vielleicht geht das doch zusammen – Sex und Anteilnahme. Vielleicht fängt etwas Neues an, hatte ich gedacht.

      Am Montag träumte ich noch vom Meer, dem Salz und den Wellen. Mit den Kindern arbeitete ich an Klangbildern. In der Pause setzte ich mich ins Lehrerzimmer und lächelte. »Hast du Monika getroffen?«, fragte Silvia. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, was sie meinte.

      Ausgerechnet während der Chorprobe, auf meiner Insel im wöchentlichen Alltag, fiel ich aus den Wolken.

      »Wahre den Abstand«, war in meinem gesamten Erwachsenenleben die Maxime für mein Verhalten in Süderlenau gewesen. Sieht man von Silvia ab, hatte ich mich weitgehend daran gehalten. Ich hätte dabei bleiben sollen, insbesondere als Chorleiterin!

      Nora war mir sofort ins Auge, mehr noch ins Ohr gefallen, als sie kurz nach Neujahr zum ersten Mal an der Chorprobe teilnahm. Üblicherweise gehörten ausschließlich Schüler und Schülerinnen, deren Angehörige, Freundinnen und Freunde sowie Ehemalige zum Chor. Nora war nichts davon. Sie war Journalistin und in Süderlenau eine Persönlichkeit, weil sie die Mehrzahl der Artikel für unsere Lokalzeitung verfasste. Zunächst hatte ich den Verdacht gehegt, sie würde Undercover für einen Bericht über den Chor recherchieren, aber es war nicht so. Sie war gekommen, um zu singen, und das tat sie! Meist sang sie mit geschlossenen Augen. Ich musste an mich halten, den restlichen Chor nicht zum Schweigen aufzufordern, so sehr genoss ich das Schwingen ihrer vollen Altstimme.

      Es erleichterte mich, als sie nach einigen Wochen Patrick im Schlepptau hatte: Monika hatte zu dieser Zeit bereits den Kontakt zu mir abgebrochen, und von Amalia war noch nichts zu sehen. Ich flottierte frei und hatte mich an einigen Abenden bereits ertappt, mir Nora in mein Bett zu fantasieren. Eine Liebe aus Süderlenau, das hätte ich weder für möglich gehalten noch erlaubt. Patrick brachte mich, schmerzhaft zwar, zurück auf das Kopfsteinpflaster meiner Stadt. Es war mehr als unfair, dass ich es ihm übelnahm.

      Er hingegen nahm wie selbstverständlich teil an der innigen Beziehung, die sich zwischen Nora und mir entwickelt hatte. Da sie ihn nicht in die Schranken wies, stand ich dem hilflos gegenüber.

      So war es dazu gekommen, dass sich inmitten meines Schulchores