Mirabai wollte einen Bhakti-Guru um Rat fragen, bekam aber keine Audienz gewährt, mit der Grundangabe, sie sei bloß ein Weib. Da ließ sie ihm ausrichten, er sei selber eine Frau, neben Krischna; denn der Unterschied zwischen Gott und Mensch sei unendlich größer als der zwischen Mann und Weib. Da errötete der Guru und empfing sie geläutert, konnte ihr aber auch nicht weiterhelfen und ihr Leid nicht verkleinern. Sie zählte gepeinigt die Tage und Wochen von Krischnas Schweigen. Sie zappelte als Fisch ohne Wasser. Sie deutete die göttliche Reaktionslosigkeit als Strafe oder Schuld. Um Schlaflosigkeit zu vertreiben, zählte sie Sterne. Als ihr ein Sterndeuter die Rück- oder Ankunft ihres lang entbehrten Gemahls ankündigte, schwelgte sie sofort in strömendem Glück, als käm er tatsächlich, und schon schien er zu kommen; also kam er – nein, doch nicht. Er kam nicht. Sie forderte Krischna verzweifelt auf, ihr ihre Vergehen zu nennen – und der Gott nannte keine. Der Gott blieb stumm. Krischna ließ sich nicht erweichen. Krischna zeigte kalte Schultern, oder nicht einmal solche. Sie rief »Verlaß mich nicht!«, ohne daß vorher der Gott überhaupt plausibel anreiste. 840000 Daseinsformen hatte sie durchlaufen müssen, ehe sie als Mensch geboren werden konnte – wofür? Sie verzehrte sich vergeblich, sie verblich; Ärzte diagnostizierten Gelbsucht. Sie hielt ihrem verschwundenen Gatten Standpauken: »Auf meine Brandwunde hast Du Salz gestreut! Deine Säge hast Du durch mein Herz geführt!« Sie versuchte, durch Hungerstreik seine Aufmerksamkeit zu erringen. (Derwisch Nuri drohte Allah, sich zu ertränken, wenn der ihm keinen Angelerfolg bescheren würde.) Krischna aber ließ sich moralisch nicht unter Druck setzen. Krischna blieb subjektiv derart weit von Mirabai entfernt, als seien ihm die Welt und sie egal. Ohne Krischna weiterzuleben, kam subjektiv für Mirabai nicht in Frage, und mit Krischna zu leben, objektiv erst recht nicht. Sobald der Visionärin die Vision ausblieb oder sobald Realismus übergewichtig wurde, litt sie Trennungsschmerzen. Ihre Lieder klangen, als wär er mal bei ihr gewesen, nur halt jetzt, zur Zeit, leider nicht mehr; einmal aber gab sie zu, daß sie eigentlich noch nie wirklich eine Begegnung mit ihm erlebte; nur ein einziges Mal sei er kurz in ihren Innenhof gekommen, und diesen Moment aber hatte sie schmachvoll verpaßt und verschlafen, getreu dem alten Sufileiden, in seiner klassischen Formulierung: »Wenn Gott da ist, bin ich nicht da; und wenn ich da bin, ist Gott nicht da.« Göttliche Phantomschmerzen, die fieser peinigten als echte, reelle Profanschmerzen, trimmten und weihten Mirabai zur Dichterin. »Erst verspricht der süße Lügner alles, später weiß er davon nichts mehr!« Sie rief: »Verlaß mich nicht«, ohne daß der polygame Gott vorher überhaupt plausibel anreiste. Hatte der polygame Gott eine andere!? Als ihr Irrtum nicht mehr mit sich selbst übereinstimmte, sah ihr das wie Lüge aus. Krischna vergaß Mirabai nicht nur; er log gar nicht erst. Ausdauernd goß die unverdient Verschmähte ihr gleichbleibendes Leid in Hunderte kaum unterscheidbarer Anläufe zu metrisch strengen, literaturhistorisch vom Bhakti-Mystiker Kabir beeinflußten Liedern.
Oder wartete Mirabai nur auf einen irdischen Liebhaber und belegte ihn mit göttlichen Namen? Einmal glaubte sie einem fahrenden Musiker anzumerken, daß in ihm Krischna stecke, und lief ihm nach, um das näher zu überprüfen. Nur selten tönte ein Pfau, ein Frosch, ein Papiha (Kuckuck) oder Kocila (eine andere Kuckucksart) herein in den Zirkel ihres Lebensinhalts: Warten auf Krischna. Selbst ihr inzwischen ergrautes Haar schob sie auf Krischnas dauerhaft hartherzig rätselhafte Entferntheit.
Oder wollte Krischna ebenso heftig zu ihr wie sie zu ihm und fand nur den Rückweg nicht? So oder so: Krischnas hingegebenste Jüngerin flehte ins Leere. Und vice versa: Krischna hüllte sich in Abwesenheit, wenn nicht gar in unverkraftbare, unzumutbare Nichtexistenz. Hätt es ihn etwas objektiver gegeben, wär er gewißlich kooperativer gewesen. Wolken erfreuten ihr Herz, doch weniger aus damals kaum entwickelter Naturliebe, sondern vor allem, wenn die Wolken Krischna anzukündigen schienen. Auch Halladschs ohnedies brahmanisch anmutendes Motiv des Falters, der sich in die Flamme stürzt, fand sich in ihren hinduistischen Versen. Ihre dauerhafte Lotosfußverehrung variierte neutestamentliche Fußwaschungen; Krischnas Beiname ›Giridhara Nagara‹ (Bergeheber) verwies wider Willen auf christlich bergeversetzenden Glauben, und ihre ehelichen Vorwürfe »Verlassen hast Du mich, Vertrauensbrecher« variierten einen in vielen Religionen bekannten Zustand, im Zen-Buddhismus ›niwa-zume‹ geheißen (Stehngelassenwerden im Vorhof); Jan van Ruesbroeck hatte es so ausgedrückt: »– wenn Gott hinwegfliegt über das Hungerhaben der Seele in einem Nichtgewähren«. Hadernde alttestamentarische Psalmisten hatten es ähnlich ausgedrückt: »Du hast Dir die Ohren verstopft vor meinen Klagen«. Jesus Christus: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen!?« Mirabai: »Du bist die Stütze meines Lebens.« Psalmist: »Dein Stecken und Stab trösten mich.«
Ansonsten schien Mirabai von keinem anderen Problem geplagt zu werden, außer das ganz allgemeine, daß man die eigene kostbare Inkarnation pro Tag mit fünfzehn Stunden weltlichen Treibens und neun Stunden trägen Schlafs verplempert. Bei aller Kürze des Lebens spürte sie sich gedrückt von der Last der Welt. In manchen Liedern redete sie sich ein, Krischna wohne in ihrem Herzen, wo sie ihn auch oft besuchte, was aber oft nichts brachte, dann wieder litt sie – wie viele Mystiker – fürchterlich, weil ihr einziger Gott so erschreckend wenig von außen kam. Sie versank in ungöttlicher Realität und starb, und ihr einstiger Wahrtraum hörte erst ganz zuletzt zu leuchten und zu nagen auf.
Die simple Tatsache, daß eine punktuelle numinose Überflutung nicht jederzeit auf Knopfdruck wiederholbar bleibt, hatte sie nie durchschaut. Keine Sekunde ihres leiddurchfluteten Lebens konnte sie als religiös unauslöschlich entflammte Seele auf die kalte Idee kommen, daß ein Gott vielleicht deswegen ausbleiben kann, weil er stumm, unerreichbar oder tot sein könnte oder seit jeher und für immer inexistent. Die alle königlich privilegierten, also profanen Verstrickungen aufgelöst hatte, verstrickte sich umso tiefgreifender und unauflöslicher im Überweltlichen. Erst durchschaute und überwand sie optimal die Maja oder ›lila‹ der Welt (göttliches Gaukelspiel), dann wurde sie zum Opfer ihrer Evidenz und Chimäre, mit einem Gott verheiratet zu sein bzw. zum Opfer metaphyischer Fopperei seitens der ›lila‹, die Krischna mit ihr trieb, oder der Gaukelgöttin Maja, die ihr einen überwirklichen Gott namens Krischna vorspielte.
Mirabais religionshistorischer Querbezug zu Minnemystikerinnen und Jesusbräuten in Europa blieb im nachträglichen Überregionalium unübersehbar. Lebenslang Gottesbraut auf Abruf, Strohwitwe, verlassenes Mägdelein und Jungfrau in einem, drehte sie sich um ihren spirituellen Fixpunkt wie vorher Laotse um Dao, Gotik um ›got‹, Madschnun um Laila, und Rumi um Schamsuddin, und der Fliegende Holländer um Erlösung, Dr. Steiner um den Geist, Martin Heidegger ums Sein, Kapitalisten um Dollars, Marxisten um Marx, Sexisten um Sex, Katholiken um Rom, Dadaisten um Dada, und die ISKCON (International Society for Krischna Conciousness) um Krischna, und eine Spirale um ihre Mittelachse, ein Rad um seine Nabe, und Stephen Hawking um schwarze Löcher, und Planeten um die Sonne, und Elektronen um Nukleonen.
Aufgeklärte, psychologische Ferndiagnose: Beziehungswahn, schizophrene Trugwahrnehmungen, mythomanisch obsessiver, marastischer Umgang mit einem fetischisierten imaginären Gefährten, garantiert therapieresistent, einerseits hochpsychotisch, aber auch nicht psychotisch genug, als daß die Patientin viel häufiger eines euphorieauslösenden göttlichen Anhauchs oder deutlicheren Dialogs gewürdigt worden wäre. In ihren Entzugsschmerzen warf sie ihrer göttlichen Droge vor, sie spende keinen Kick mehr. Damalige mystische Zustände innerhalb würdiger Hochreligion blieben davor bewahrt, echte Gottesbegegnungen arg materiell und physiologisch auf simple Drüsensekretion zurückzuführen, die leider bloß einmalige Ausschüttung von Endorphin, Dopamin, körpereigener Glückshormone, die dann dem betroffenen, überfluteten Neocortex mythologisch-halluzinatorische Fehlinterpretation bescherte.
Von Mirabais tausend überlieferten Liedern, des Titels ›Padavali‹ (Gedichtfolge), galten nach fünfhundert Jahren mündlicher Tradition etwa zweihundert als authentisch, auf Marwari-Hindi, Standard-Hindi, Gudscharati und Radschastani. Pundschabipartikel und östlichere Dialekte schlichen sich in den Corpus ein und machten dessen geographische Ausbreitung erschließbar. Mirabai von Jodhpur gilt weiterhin als eine der ersten Dichterinnen, die nicht nur traditionell vorgegebene Motive aufgriffen und im engen Rahmen des bis dahin Üblichen imitierten, sondern die auch »subjektive Befindlichkeiten« anklingen ließ.
Worte