Heilige Närrinnen. Ulrich Holbein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Holbein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783843802659
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sie »pigmentarii« (Salbenmischer). Als Heilkundige heilte sie oft einfach nur mit geweihtem Wasser. Trotz Schwächlichkeit fuhr sie oft auf Predigtreisen. Ohne eiserne Lady zu sein, sondern ganz weich, kränkelnd und fragil, blieb sie agil und geistlich fruchtbar bis ins höchste Alter. Sie sah fünf Kaiser und siebzehn Päpste und Gegenpäpste kommen und gehn.

      Im Placebo- und Contergan-Zeitalter erlebte ihre Kräuterheilkunst eine enorme Renaissance. Ihre Musik klang in Disco- und Metallica-Zeiten so still und schön, als wär das finstere Mittelalter nicht bloß halb so schlimm, sondern doppelt so schön und still gewesen. Wo einst ihr Kloster stand, donnerten alsbald Schnellzüge. Auf einmal schienen Hildegardpassagen auf sauren Regen, Schadstoffbelastung und Umweltkatastrophen zuzutreffen: »Und ich sah, daß das obere Feuer des Firmamentes ganze Regenschauer voll Schmutz und Unrat auf die Erde schüttete.« Die Elemente schrien auf gegen den Menschen. Man verehrte sie wie eine Heilige, dergestalt, daß alsbald alle sie für heilig hielten und sich wunderten, daß sie strenggenommen nie offiziell heiliggesprochen wurde, trotz vieler Bemühungen (vielleicht wegen einiger freimütiger, also anstößiger Passagen); eine ungekrönte Königin, einstimmig die größte sichtbar gewordene Frau des 12. Jahrhunderts, die Dutzende bis Hunderte Heilige überragte, wie Franz Kafka, James Joyce, Marcel Proust, Arno Schmidt selbviert 55 bis 77 Nobelpreisträger in die Pfanne hauen. In Frauenlexika landete Hildegard von Bingen zwischen Patricia Highsmith und Etty Hillesum.

      Worte der Hildegard: Der Weinberg des Herrn raucht von Leid. – Das eine davon ist wie ein feuriger, aber nicht brennender Hund, weil dieser Zeitabschnitt bissige Menschen in die Welt setzen wird. – In den Bäumen erkennt der Mensch, daß er körperlich ist. – Wenn fruchtbare Männer sich der Frauen enthalten, werden sie leicht krank. – Da entbrennt der Mann in einem so starken Lustgefühl, daß er in der Hitze dieser Leidenschaft seiner vergißt und den Erguß seines schaumigen Samens nicht mehr zurückhalten kann.

      Hildegard über sich selbst: Es geschah im Jahre 1141 nach der Menschwerdung des Gottessohnes Jesus Christus, als ich 42 Jahre und 7 Monate alt war. Aus dem offenen Himmel fuhr blitzend ein feuriges Licht hernieder. Es durchdrang mein Gehirn und setzte mein Herz und die ganze Brust wie eine Flamme in Brand. – Ich, erbärmlich und mehr als erbärmlich in meinem Sein als Frau, schaute schon von meiner Kindheit an große Wunderdinge, die meine Zunge nicht aussprechen könnte, wenn nicht Gottes Geist mich lehrte zu glauben. – Ich bin ja ein Mensch, der durch keinerlei Schulweisheit über äußere Dinge unterwiesen wurde. Nur innen in meiner Seele bin ich unterwiesen.

      Andere über Hildegard: Ihr Leben gleicht dem Bild eines kostbaren Sterbens. (Mönch Gottfried, einer ihrer vielen Sekretäre) – Wer hat je Ähnliches von einer Frau gehört? (Wibert von Gembloux, Hildegards letzter Sekretär) – Hildegards gesamtes Lebenswerk ist eine riesige Volkspredigt, der Versuch, das Gemälde der Geistesgeschichte aufzurollen. (Friedrich Heer, 1916–1983) – Sie vermochte tatsächlich Weltgeschichte zu bewegen, ohne der Manie einer monastischen Emanze zu verfallen. (Alfred Läpple, 1988) – So gehören zu der grandiosen Zusammenschau Hildegards auch scheinbar belanglose Nebensächlichkeiten, ermüdende Wiederholungen und minutiöse Beschreibungen des Geschauten. (Walpurga Storch, 1990)

      Göttliche Hochzeit mit unverläßlichem Gott

      Prinzessin Mirabai von Jodhpur – Gottesbraut, Strohwitwe, Bhakti-Dichterin (um 1498–1546)

      Sie wuchs auf in einflußreicher Dynastie im weltumspannenden Mogulreich; ihr Urgroßvater Dschodhadschi Rathor gründete Jodhpur. Die Krischna-Statuette, die ein Gast ihrer Eltern, ein 125jähriger Sadhu, Bhakti-Mystiker und Rama-Verehrer namens Raidas bei sich führte und die sie als Kind sah und unbedingt haben wollte, mochte ihr der zögernde Greis nicht schenken, bis ihm dann ein Nachttraum befahl, die Figur doch noch an dieses Mädchen weiterzugeben. Bei der Hochzeit einer Nachbarstochter fragte Mirabai (Mira Bai), wer wohl ihr Bräutigam mal sein würde. Da wies ihre Mutter scherzend auf die Krischnafigurine; das Mädchen nahm das aber überhaupt nicht als Scherz. Ihr einziges Ein und Alles seither und sowieso und für immer hieß: Krischna. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter wuchs sie bei Großvater Rao Dudadschi auf, mit ihrem Cousin Dschayamal. Lehrfächer in diesen Adelskreisen: Schriftkenntnisse, Kampfkunst, Feinhandwerk, höfische Etikette. Nach dem Tod des Großvaters verheiratete ihr Onkel Viradev sie 1516 mit Bhodschradsch Sisodiya aus der Radschputen-Dynastie. Ihr ablehnender Kommentar: »Ich werde nicht vom Elefanten steigen, um einen Esel zu reiten.« Unglaublich, aber sie erklärte, bereits verheiratet zu sein; alle staunten: »Aber mit wem?« Sie betrachtete Schri Giridharalaladschi (also eben Krischna) als ihren Göttlichen Gatten. An der angeblichen Hochzeit mit ihm, vor kurzem, hatten plus/minus 56 Millionen Götter teilgenommen, falls da keiner aufgerundet hat, bei dieser selbst für Hindu-Demoskopen schwer überprüfbaren Ziffer, und in Relation zur abflauenden Überwonne des unglaublich traumhaft überirdischen Glücksfestes sah ihr irdischer Gatte vergleichsweise arg ungültig aus, ungöttlich, extrem unzureichend, farbschwach und unwichtig. Die hochoffizielle fürstliche Heiratszeremonie am Hof ließ die Achtzehnjährige passiv schulterzuckend über sich ergehn, verweigerte aber aktiv Hochzeitsnacht und Ehevollzug, was ihr irdischer Gatte liebevoll akzeptierte. Dreizehn Jahre später, als er in der Schlacht von Ghatoli umkam, verweigerte sie die Witwenverbrennung – Begründung, sie sei keine Witwe; denn die Schlange des Todes könne ihren wahren Gatten nie beißen.

      Das Falschgold des Königshofs, der Beamtenapparat, Vermittlungspriester und anderes Drumherum verachtete sie. Um ihres Idols Rückkunft näherzukommen, ließ die atypische Königstochter, zum Entsetzen ihrer Verwandten, die Palastanlagen im Rücken und wurde eine singende Yogini, rieb sich mit Asche ein, lief mit Antilopenfell herum, mit Fußkettchen und Zimbeln an den Fesseln, also optisch durchaus auf schamanischer Ebene. Lieber göttliche Lumpen als profane Seidenkleider! Sie hielt es wie vormals und anderswo die abtrünnigen Könige Gotama und Ibrahim Adham als Bettelasketen bzw. Wanderarbeiter umgingen: das Schlimmste, was familiär passieren konnte; weil nun die Endloskette der Ahnengeister abriß. »Sippenzerstörerin!« mußte Mirabai sich von ihrer Schwiegermutter nennen lassen. »Mira ist wahnsinnig!«, klagten Leute und Freunde. Ermordungsversuche, märchenhafterweise drei an der Zahl, überstand Mira durchaus. Als ihr Ratan Singh II. meuchlings einen Giftbecher reichen ließ, trank sie ihn lachend aus, als handele es sich um den Nektar von Govindas Füßen. Da sie bereits dessen Unsterblichkeitstrunk genossen zu haben glaubte, konnten ihr weder Gift noch Schlangenkorb noch Prunkbett mit tückischer Spieß-Einlage etwas anhaben (falls nicht Sympathisanten am Hof die Anschläge empirisch vereitelten). Nach Ratan Singhs Ermordung bestieg Wikramadschit den Thron, der gleichfalls die artfremd wandelnde Familienschande töten lassen wollte, nur fand sich kein Ausführorgan, für den Fall, daß sie als eine echte Heilige zu gelten hatte. Der Machthaber nötigte sie, sich zu ertränken, sie aber konnte fliehen.

      Mirabai litt eigentlich an ganz anderem. Denn ihr Göttergemahl, kaum daß er sie entzündet und unendlich beglückt hatte – so kurz nach der bombastischen Hochzeit –, kehrte nicht mehr zu ihr zurück, rätselhafterweise. Sie lief durch Wälder und fand sein Antlitz nicht wieder. Ohne ihn fühlte sie sich klein, hohl, tot. Lebendigkeit fuhr nur dann in sie, wenn er mitspielte. Schlaflos quälte sie sich. Mondlicht tröstete sie nicht mehr. Einmal glaubte sie die Flöte Krischnas zu hören, da schwanden ihr vor Wollust die Sinne. Kanha (Dunkler), Gopala (Kuhhirt), Govinda (Herr der Kuhherde), Manamohana (Herzbetörer), Dinanatha (Helfer der Armen)‚ Madhava (Nachfahr Manhus), Sa’nvara (Dunkelblauer)‚ Schyama (Dunkler, Zaubernder, schwarze Schlange): die Unzahl von Krischnas klangschönen Namen, Bei- und Kosenamen flatterte polyphon, also fast polytheistisch farbenprächtig um den monoton, ja monotheistisch umkreisten einzigen Lichtpunkt Krischna. Mirabai rühmte seine krokodilförmigen Ohrgehänge und dreifache Körperbiegung und bot ihm, innerhalb ihrer Lieder, ihr Kopfhaar als Thron, so als wäre der kosmosumspannend ausdehnbare Hari (Löwe) oder Murari (Dämonenbezwinger), ihr Abgott und Gott, ein kleiner nestbauender Dämon. Krischna, unrührbar, quittierte selbst ihre schönsten Locklieder mit Abwesenheit. Was Metatari (die aus Merata Stammende, Beiname Mirabais) ihm auch opferte, selbst Großes: es blieb insgesamt wenig, kaum was, ach ja: nichts. Für seine Rückkehr zu ihr schmückte sie ihre Bettstatt mit Blumengirlanden. Dergleichen konnte Krischna offenbar nicht locken. Hilfeschreie ertrinkender Elefanten erhörte der Gott durchaus, nicht aber Mirabais hinausgesungenen Sehnsuchtsschreie. Ein Elefant