Heilige Närrinnen. Ulrich Holbein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Holbein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783843802659
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und weise. Ihr Fetisch oder Zentralbegriff lautete nicht Mokscha, Karma oder Nirwana, sondern Dharma. Hinter ihr Samsara (Scheinwelt), vor ihr das Dharma (kosmisches und soziales Gesetz). Durch die strahlende Klarheit ihres Handelns wurden hunderttausend Wesen zum Dharma geführt – kurz: Hinter Hymnen und Märchen wurde ihre reelle Vita unsichtbar. Statt an Heirat dachte sie nur an Versenkung. Bei einem Fest fiel sie dem Landesherrn von Rinang auf, Dragchen, der sie prompt mit seinem Sohn Dragpa Sambrub zu verheiraten suchte. Schmuckgeschenke machten keinerlei Eindruck auf sie, die sie den Antrag nicht annahm, doch ihre Eltern, aus Angst, nun vom König getötet zu werden, wiesen sie auf ihre karmischen Pflichten hin und überredeten sie doch noch zur Heirat. Sie gebar einen Sohn, Lhau Darpo, und erweckte Scheelsucht bei Ani Nyemo, der geifernden Tante ihres liebreichen Gatten. Diese dramaturgisch offenbar obligatorische Tante, genau wie in der Vita von Milarepa, überhäufte die gute, schöne, wahrheitsliebende Nangsa Obum mit später so genannten double binds: Wenn die Angeheiratete schwieg, wurde sie »blöde« gescholten; wenn sie redete, »Großmaul« tituliert; wenn sie ausging, wurde sie »Dirne«, wenn sie daheim blieb, »starres Tempelbild« genannt. Das klang psychologisch glaubhaft, wenngleich ansonsten in diesen beiden Frauen Gold- und Pechmarie agierten: Die Schöne war genauso gut und mildtätig wie die Unschöne giftig und hartherzig. Ihre wahren Wünsche verbarg Nangsa, bis eine ihrer Tränen auf ihren schlafenden Gatten fiel und Nangsa sie mit weiterem Schmuck trösten wollte. Gedichte, in die sie ihr Leid kleidete, milderten es nicht, geschürt von zwei Gurus, deren einer, der Milarepaschüler Rechung Dordrag, ihre Ansicht verstärkte, ihr Körper, samt Schönheit, würde bald dahinschmelzen und daß man nur die kurze Zeit, in der man mit einem Körper ausgestattet sei, das Dharma ausüben könne. Ihr Sohn, obwohl klug, würde sie nicht zur Erleuchtung führen können, weil selber nur als flüchtiger Regenbogen zugange. Sie verglich ihn einem Strick, der sie im Leben festhielt, gut buddhistisch; denn Buddhas Sohn hatte Rahula (Fessel) geheißen. Weil sie zwei vorbeipilgernden Gurus allzu freigebig Getreidesäcke gespendet hatte, riß die geizige Tante einen steigerbaren Streit vom Zaum, in deren Verlauf sie die gute Nangsa sogar schlug und ihr sieben Haare ausriß, um dann Nangsas Gatten zu petzen, Nangsa habe umgekehrt sie geschlagen. Ihr Gatte, obwohl gutherzig, glaubte in diesem Zweifelsfall eher den Verleumdungen seiner Tante als ihr, so windabhängig wie eine Wetterfahne, und schlug gleichfalls die Schöne. Sie litt unter den häuslichen Zwistigkeiten derart, daß sie daran starb und ins Bardo einging, in das Synonym des abendländischen Limbus, das Niemandsland zwischen Sein und Nichtsein, den Zwischensaum zwischen Tod und Wiedergeburt.

      Aber als Dakini erzeigte sie sich fähig, nach ihrem Tod ihre Stimme singend zu erheben: Alle Angehörigen erschraken und hielten sie für einen Rolang, einen tibetischen Untoten oder Zombie, auf Sanskrit: für einen Vetala, also einen buddhistischen Ghul oder Revenant oder Vampir. Sie aber gehörte zu den wenigen, die bei Lebzeit starben, aber noch mal kurz zurückdurften; sie kam als Delong, also nicht als Gespenst, sondern als halbverklärte Göttin, sprach und sang wie aus einem transzendentalen Wachkoma – Gatte und Söhnlein flehten sie in gesungenen Kehrreim-Strophen ergreifend um Rückkunft in den Samsara; sogar die böse Tante zeigte Reue, die fast Verklärte aber schob Gegengründe und Argumente nach, um ihre Nichtrückkehr zu rechtfertigen. Geduldig gesungene Verhandlungen zogen sich hin.

      Bald hieß es: Alle Schönheit des Universums, samt allen Tantras und Sutras und Mantras, die sie unermüdlich ruminierte, sammelte sich in ihr. Ihre Schönheit übertraf die einer Göttin. In der herzergreifenden Geschichte dieser Zeitgenossin von Machig Lapdrön und Phadampa Sangye und sogar Milarepa mischten sich Hagiographie, Vergoldungslegende, Ammenmärchen, buddhistisches Lehrstück mit Lied-Einlagen, Spuren stimmiger Biographie und Psychologie sowie haufenweise eingesprengte Goldtropfen tiefer Erfahrung und höherer Wahrheit. Alles wurde mehrfach umgeschichtet und aufbereitet und wanderte als dramatisches, tränenlösendes Bühnenstück durch Länder und Jahrhunderte.

      Worte von Nangsa Obum: Das Leben ist so kurz wie ein Blitz in den Wolken. – Unser Leben ist wie ein Wassertropfen im Gras, den ein wenig Hitze verdunsten läßt. – Das Leben ist wie ein Wasserfall, der von hohem Berg stürzt; obgleich er großen Lärm macht, dauert es nur einen Augenblick, dann bist du vorbeigegangen, und er ist verschwunden.

      Nangsa Obum über sich selbst: Ich wurde geboren, um allen fühlenden Wesen zu helfen. – Ich möchte nur den Dharma ausüben, aber nun muß ich jemanden heiraten. Meine Erscheinung hat gegen mich gearbeitet. – Ich hab nicht das, was man für das nächste Leben braucht. Ich hab nicht das, was man für dieses Leben braucht. – Ich verneige mich vor Guru, Deva und Dakini! Bitte führt mich heraus aus dem Ozean des Leidens. – Ich verneige mich vor den fünf Giften, die in die fünf Weisheiten verwandelt sind! – Ich bin wie ein kleiner Garten, der vertrocknen kann. Es gibt größere Gärten. – Obwohl das Mädchen Nangsa hübsch ausschaun mag, wie könnte sie sich eignen, die Braut einer bedeutenden Person zu sein? Bitte, laßt mich gehn! Obum möchte den Dharma studieren! – Jenseits der Vergänglichkeit liegen 7 Juwelen (Vertrauen, Disziplin, Großzügigkeit, Hören, Verstehen des Dharma, Beschämung, Prajna-Fähigkeit, Prajna-Entwicklung). Ich, diese Frau, möchte nur diese haben. Selbst gut gebaute Häuser zerfallen. Ich möchte nicht im Haus des Königs von Rinang leben, lieber in einer Höhle in Einsamkeit. Die bricht nicht ein wie Menschenwerk. – Meine schöne Gestalt und du, mein Sohn, und alle Verwandten sind Hemmklötze meiner Dharmapflege. – Bevor ich starb, lebte ich in reichen Häusern. Als ich ein Beispiel für die Vergänglichkeit gab und mein Körper auf dem östlichen Hügel lag, war ich sehr traurig, als ich ihn sah. Da ich an die Bedeutungslosigkeit des samsarischen Lebens denke, fühl ich mich in eurem Haus nicht glücklich. Als die Tochter meiner Mutter, Nangsa Obum, noch am Leben war, ritt ich auf einem munteren Pferd, doch jetzt hab ich nicht das Gefühl zu reiten.

      Andere über Hipparchia: Ihr Geist verließ ihren Körper wie ein Haar, das man aus der Butter zieht. (Tibetisches Volksdrama)

      Heiliger als heiliggesprochene Heilige

      Hildegard von Bingen, die Prophetissa teutonica – Benediktiner-Nonne, Äbtissin, Visionärin, Musikerin, Heilkundlerin, Naturforscherin (1098–1179)

      Schon mit fünf sagte das zehnte Kind adliger Eltern hellseherisch die Fleckenzeichnung ungeborener Kälber voraus. Von der Inklusin Jutta von Spornheim ward sie lateinisch erzogen auf dem Disibodenberg.

      Die rheinische Nonne fühlte sich oder wurde von Gott beauftragt mit mystischer Gottesschau – ihre Begründung: Männer seien zur Beobachtung der Gerechtigkeit zu lau und zu schlaff, um ihre Schaugeschehnisse (Visionen) aufzuschreiben, was sie von allein wohl nicht unbedingt gemacht hätte. Ihr Organisationstalent stand ihrer Kontemplation nie im Weg. Sie beschrieb präzise die Antlitze, Flügel und Leuchtstufen aller Engelschöre. Überirdische Lichtfülle blendete und schmerzte sie nicht, sondern wärmte sie. Ihrem Gott war Konkurrenzausschaltung sehr wichtig, und drohte also ihr, daß, wenn sie – statt Ihn – Sterne, Feuer, Vögel und andere Geschöpfe nach der Zukunft befrage, Er sie hinwegfegen würde wie den gefallenen Engel. Er wandte sich direkt an sie (wie Allah an Mohammed) und machte Vorwürfe: »Weshalb schiebst du Mich beiseite? Du Törin! Überlege, wer Ich bin! Ich bin Gott über alles und in allem. Aber du willst, daß ich deinen Willen tu, während du Meine Gebote verachtest! Ein solcher Gott wäre kein Gott. Gott braucht nicht Ratschläge am Anfang noch Furcht am Ende.« Gott übergoß sie auch mit archaischen, bei Hiob angelesenen Protzereien: »O Mensch, wo warst du, als die Sterne und übrigen Geschöpfe gemacht wurden?« Gott hielt also Sterne für Geschöpfe, unterlag also selber eigentlich monotheistisch verpöntem Animismus!? Ihr Gott warnte sie auch vor dem Teufel, glaubte also an ihn. In einem Brief an Papst Anastasius IV. sagt Hildegard von Gott, daß dieser nicht aus dem Weg geräumt werden könne. Selbst König Konrad III. wagte sie brieflich zu mahnen: »Höre: In gewisser Weise wendest du dich ab von Gott. Die Zeiten, in denen du lebst, sind leichtfertig wie ein Weib.« (Frauenverachtung?) Kaiser Friedrich Barbarossa erinnerte sie brieflich daran, daß er nur ein Diener Gottes sei. Eine himmlische Stimme redete sie also an: »Gebrechlicher Mensch, Asche von Asche, Moder von Moder!« und befahl ihr, ihre Schauungen niederzuschreiben. Pausenlos sprach sie von ihrem Sohn, hatte aber als Nonne gar keinen, sondern Gott sprach durch sie hindurch, die sich deshalb auch »Posaune Gottes« nannte, von seinem Sohn Jesus. Bernhard von Clairvaux half, ihre Visionen von der Kirche als