Anzoleto hatte keine Spur von Religion: das war mein Kummer, und ich hatte wohl Recht, dass mir seine Ungläubigkeit bange machte. Mein Lehrer Porpora … was war sein Glaube? ich weiß es nicht. Er sprach sich nie darüber aus und doch hat er mir in dem schmerzlichsten und feierlichsten Augenblicke meines Lebens von Gott und himmlischen Dingen geredet. Seine Worte haben mich zwar erschüttert, aber sie haben mir nichts zurückgelassen als Bangigkeit und Ungewissheit. Er schien an einen eifrigen und eigenwilligen Gott zu glauben, der Genie und Inspiration nur denen gäbe, die sich stolz und fühllos vor den Leiden und den Freuden ihrer Nebenmenschen verschließen. Mein Herz stößt diese menschenfeindliche Religion zurück, ich kann einen Gott nicht lieben, der zu lieben mir verböte.
Welcher ist denn nun der wahre Gott? Wer wird mich’s lehren? Meine arme Mutter war gläubig. Aber mit wie vielem kindischen Götzendienst war ihre Gottesverehrung gemischt! Was soll ich glauben, was soll ich denken?
Soll ich wie die sorglose Amalie sagen: die Vernunft allein ist Gott?
Aber sie kennt selbst diesen Gott nicht einmal, und kann ihn mich nicht kennen lehren; denn es gibt keine Person von weniger Vernunft als sie.
Kann man leben ohne Religion? Wofür dann leben? Wofür mühete ich mich dann? Wozu sollte ich Erbarmen, Mut, Aufopferung haben, Gewissenhaftigkeit und Rechtschaffenheit, ich, die ich allein bin in der Welt, wozu? wozu? wenn nicht im All ein höchstes Wesen ist, voll Weisheit und voll Liebe, das mich kennt, mich sieht, mich richtet, mir Beifall gibt, mir hilft, mich hütet und mich segnet? Wo schöpfen Die im Leben Kraft und Begeisterung, die nichts nach einer Hoffnung, einer Liebe fragen, welche über allen Täuschungen und allem irdischen Wechsel ist?
Höchstes Wesen! rief sie in ihrem Herzen, die gewohnten Formeln ihres Gebets vergessend, lehre mich, was ich tun soll. Höchste Liebe! lehre mich, was ich lieben soll. Höchstes Wissen! lehre mich, was ich glauben soll.
So betend und denkend vergaß sie der verrinnenden Zeit, und Mitternacht war vorbei, als sie, bevor sie sich niederlegte, noch einen Blick auf die vom Monde beschienene Landschaft warf. Die Aussicht, welche sie aus ihrem Fenster hatte, war nicht sehr ausgedehnt, der einschließenden Berge wegen, aber höchst malerisch. Ein Bergstrom floss tief unten durch ein enges, gewundenes Tal; in sanften Wellenlinien breitete dieses seine Triften über den Fuß unregelmäßiger Höhen, welche den Gesichtskreis schlossen, aber hier und da sich öffnete, um einen Blick auf andere Schluchten und andere, schroffere und ganz mit schwarzen Tannen bedeckte Berghöhen freizulassen. Das Licht des sinkenden Mondes stahl sich hinter die Hauptpartien dieser ernsten, kräftigen Landschaft, worin alles düster war, das lebhafte Grün, das eingeschlossene Wasser, das von Moos und Eppich überwucherte Gestein.
Während Consuelo die Landschaft mit denen verglich, durch die sie in ihren Kinderjahren gekommen war, überraschte sie der Gedanke, dass diese Natur, die hier vor ihren Augen lag, ihr nicht fremd und neu wäre, sei es, dass sie schon einmal diese böhmische Gegend durchreist, sei es, dass sie anderswo sehr ähnliche Gegenden gesehen hätte.
– Wir sind so viel umhergezogen, meine Mutter und ich, sagte sie zu sich, dass es mich nicht wundern sollte, wenn ich schon einmal hier gewesen wäre. Von Dresden und von Wien habe ich eine bestimmte Erinnerung. Wir können leicht auf dem Wege von einer dieser Städte zu der anderen durch den Böhmerwald gewandert sein. Sonderbar wäre es doch, wenn wir damals gastliche Aufnahme gefunden hätten in einer Scheune dieses Schlosses, in welchem ich jetzt als eine Person von Bedeutung wohne, oder wenn wir mit Singen ein Stück Brot erworben hätten an der Tür einer dieser Hütten, wo jetzt Zdenko die Hand ausstreckt und seine alten Lieder singt – Zdenko, der umherziehende Künstler, meines Gleichen und mein Bruder, obgleich es nicht mehr so den Schein hat!
In diesem Momente fielen ihre Blicke auf den Schreckenstein, dessen Gipfel sich über einem der vorderen Hügel erhob und es kam ihr vor, als ob an dieser schaurigen Stelle ein rötlicher Schein die durchsichtige Klarheit des Himmels leise färbte. Sie spannte ihre ganze Aufmerksamkeit an, und sah den undeutlichen Schein zunehmen, verschwinden und wiederkehren, bis er endlich so bestimmt und hell wurde, dass sie ihn keiner Sinnentäuschung mehr zuschreiben konnte. Mochte es der Rastort einer Zigeunerbande oder die Zufluchtsstätte eines Räubers sein, gewiss schien, dass der Schreckenstein in diesem Augenblicke von lebenden Wesen eingenommen war, und Consuelo hatte, nach ihrem heißen und kindlichen Gebete zu dem Gott der Wahrheit, nicht den geringsten Hang, an das Dasein jener eingebildeten, feindseligen Geister zu glauben, womit die Volkssage den Schreckenstein bevölkerte.
Aber war es nicht vielmehr Zdenko, der dort ein Feuer angezündet hatte, um die Nachtkälte von sich abzuwehren? Und wenn es Zdenko war, brannte dann nicht das dürre Reis des Waldes, um Albert’s starre Glieder zu erwärmen? Man hatte diesen Schein oft auf dem Schreckenstein gesehen; man sprach davon mit Grauen, man maß ihn einer übernatürlichen Ursache bei. Man hatte tausendmal gesagt, er ginge aus dem Stamme der verhexten Ziskaeiche hervor. Aber der Hussit war nicht mehr da, wenigstens lag er tief in der Schlucht, aber das rötliche Licht schimmerte noch. Wie kam es, dass diese rätselhafte Erscheinung nicht schon die Forschungen nach Albert auf diesen seinen mutmaßlichen Zufluchtsort hingelenkt hatte?
O über den Stumpfsinn dieser Frommen! dachte Consuelo; ist es eine Wohltat des Himmels oder ein Elend unfertiger Naturen?
Sie fragte sich zugleich, ob sie den Mut haben würde, allein, zu dieser Stunde, nach dem Schreckensteine zu gehen, und sie sagte sich, sie würde, von Menschlichkeit getrieben, ihn gewisslich haben. Indessen das hatte sie schon umsonst, sich mit dieser Zuversicht zu schmeicheln, denn der ängstliche Verschluss der Burg ließ ihr keine Möglichkeit, ihren Gedanken auszuführen.
Sie erwachte mit dem Tage, voll von Eifer, und lief sogleich nach dem Schreckenstein. Alles war dort still und tot. Das Gras rings um den Stein schien nicht betreten. Keine Reste von einem Feuer, keine Spur von einem nächtlichen Besuche. Sie ging nach allen Richtungen und fand kein Anzeichen. Sie rief Zdenko’s Namen nach allen Seiten, sie versuchte zu pfeifen, um zu sehen, ob Ajax nicht bellen würde, sie nannte ihren Namen zu wiederholten Malen, sie rief das Wort Trost in allen Sprachen, die sie wusste, sie