Weiter unten stand von derselben Hand geschrieben:
»Am selben Morgen fanden sie des Lupold Leiche: Keiner weiß, wer die That gethan.«
Die folgende Seite trug oben die Inschrift:
»Heut' am Neujahrstage anno domini 1619 gebar die verwittibte Freyfrau Maria Dolorosa von Falkner den Herren des Falkenhofes; Jost, Freyherr von Falkner wird sein Name heißen. Sein Vormund bleibt der Freyherr Robert, sein Großvater. Seiner Mutter Irrsinn ist nicht gewichen bis zur gegenwärtigen Stunde.«
Unten stand: »Am 24 Junii, a. d. 1620 verschied sanft die Freyfrau Maria Dolorosa zu einem besserm Leben. Sie war meine geliebte Tochter. Ich schwöre, sie that die That im Irrsinn, und ich habe sie dazu getrieben. Mir bricht das Herz in Reue, denn ihr umnachteter Geist hinderte sie, mir zu vergeben! Wollte Gott, ihr Sohn fände besseres Loos, als Lupold, sein Vater, und möchte nimmer lernen mir zu fluchen oder an seiner Mutter Schuld zu glauben – sie that es im Wahnsinn, so wahr ein Gott im Himmel lebt. Robert Freiherr von Falkner.«
Unter diesen Zeilen standen folgende Worte:
»Der Großvater fiel bei Lützen. Er ruhe in Frieden, – ich wills versuchen ihm zu vergeben, was er an seinem eignen Kind gethan. Meiner Mutter kann keine Schuld beigemessen werden, denn man rechnet nicht mit denen, deren Geist umnachtet ist, aber ich kann's nicht hindern, daß das Volk sie als meines Vaters (für den sie den Freiherrn Ferdinand halten) Mörderin bezeichnet. Ich weiß es nun besser, aber das Herz ist mir fast gebrochen an der Erkenntniß.
»Am Tage, da ich zuerst diese Blätter gelesen, am 1 Junius 1644, dem Tage meiner Volljährigkeit. Jost, Freyherr von Falkner.«
Das war der Epilog zu der Tragödie, die hier verzeichnet und zwischen den Zeilen zu lesen stand, und erschüttert beugte Dolores ihr Haupt vor den Leiden der schmerzensreichen Ahnfrau, die schuldig und doch unschuldig war. Die Chronik sprach von der Vernichtung der Kapsel des unseligen Lupold – diese vor ihr mußte also der armen Maria Dolorosa gehört haben. Tiefbewegt sah Dolores auf das liebliche Bild herab, das ihr so sehr glich, und dachte, wie seltsam es sei, daß sie eine spanische Mutter gehabt, wie jene, daß sie denselben Namen trage! Dann las sie noch einmal die Prophezeiung, die jene am Abend vor ihrem Tode niedergeschrieben, als der Wahnsinn von ihr wich für eine kurze Frist, und wieder fragte sie sich, ob sie dazu ersehen sei, die Erlöserin zu werden, nach der die Seele der Unglücklichen begehrte? Und doch, wie sollte es geschehen? Die Worte waren so voll von verborgenem Sinn, bis auf die ersten vier Zeilen:
Wenn sich die Bas' dem Vetter soll vermählen,
Wird sich der Falk ein dauernd Nestlein wählen.
Kann sich das Edelfalkenpaar nicht finden,
So wird ihr Stamm erlöschen und verschwinden. –
War sie und Alfred Falkner dazu berufen, dies »Edelfalkenpaar« zu sein? Es schoß ihr glühend heiß vom Herzen empor und unmutig schloß sie Kapsel und Bücher.
»Thorheiten,« sagte sie leise. »Das kommt davon, wenn man nachts allein in einem alten Schlosse Familien-Schauergeschichten liest und Prophezeiungen. Wo blieb mein klares, ruhiges Denken? Ich habe geträumt, ein Zufall ließ mich das Buch der armen Wahnsinnigen finden, ein Zufall stimmte es zusammen mit der Familiengeschichte vergangener Zeiten – voilà tout!« –
Sie nahm Kapsel und Missale, denn die wollte sie bewahren, wo sie sie gefunden, ergriff den Leuchter und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen, als ein leises Geräusch, wie eine ins Schloß fallende Thür sie erschreckte – es kam vom Kamin her, dessen war sie sicher. Ruhig legte sie nieder, was sie trug, und durchsuchte sorgfältig den Kamin, und da sich hier nichts fand, auch das übrige Zimmer; dabei durchfuhr es sie, daß dasselbe wohl in Verbindung stehen müsse mit dem nördlichen Schloßflügel, doch es fand sich nichts, was diese Vermutung bestätigen konnte. »Ramo mag danach forschen,« dachte sie. »Wie nervös bin ich doch geworden als Schloßfrau vom Falkenhofe!«
***
In dem rosenumdufteten, lindenumrauschten Schlößchen Monrepos waren seit einigen Tagen die Jalousien geöffnet, die Rouleaux in die Höhe gezogen und der frischen warmen Maienluft gestattet worden, frei einzutreten in die Rokokoräume dieses, wie ein Schmuckkästchen ausgestatteten buen retiro eines regierenden Fürsten, der sich hier die schönsten Sommermonate hindurch zwanglos ausruhte von den Regierungsgeschäften, die er nicht hatte, da das Reich, unter dessen Oberhoheit er stand, ihm dieselben freundlichst abnahm, und nur seine Unterschriften erbat. Doch Urkunden unterzeichnen, Orden verleihen, Cour abhalten und Hofbälle geben sind Arbeiten, die schließlich eine Erholung nötig machen, und Se. Hoheit der Fürst Leopold war ein leidenschaftlicher Rosenzüchter. Dieser Liebhaberei konnte er während des Winteraufenthaltes in der Residenz nur durch die Pflege von Topfrosen frönen – das war zwar immerhin etwas, aber doch wenig genug. Hier in Monrepos dagegen durfte Hoheit im leichten Leinenröckchen und einen großen Panamapflanzerhut auf dem Haupt ungeniert unter seinen Lieblingen stehen, okulierend, schneidend, aufbindend und die Raupen hinwegputzend, glücklich in seiner Beschäftigung, ohne über die Launen des Schicksals zu philosophieren, das den einen zum Fürsten macht, der eher zum Gärtner getaugt hätte, und umgekehrt.
Gestern Abend erst war die fürstliche Familie auf Monrepos angelangt, und heut' früh schon stand der Herzog und begann seine Rosen in Ordnung zu bringen, die lange, hagere Gestalt im einfachsten Sommeranzug von rohem Leinenzeug, das faltige, glattrasierte Antlitz freundlich lächelnd, oder leise eine moderne Operettenmelodie pfeifend.
Auf der Terrasse vor dem Gartensalon, im kühlen Schatten saß die übrige herzogliche Familie, bestehend aus dem Erbprinzen und seinen Schwestern, denn die Herzogin war seit Jahren tot und hatte sterbend an ihren Platz, d. h. den der repräsentierenden, die Würde und Etikette des Hofes, ihres Haushaltes, aufrecht erhaltenden Hausfrau und Fürstin ihre älteste Tochter gestellt; »denn Höfe, denen der weibliche Zügel fehlt, geraten leicht auf abschüssige Bahn,« pflegte sie zu sagen. Aber sie that nicht nur das allein, sondern empfahl ihrer Tochter auch das Wohl ihrer Geschwister, das versöhnende, belebende, immer fester knüpfende Prinzip zu sein zwischen dem Herzog und seinen Kindern, zwischen dem Hof, dem Adel und dem Volke.
Wie die Tochter dies Vermächtnis erfüllt, wußte man allerorten zu rühmen. Sie war dem Vater die treueste Gefährtin und beste Ratgeberin, sie war den Geschwistern alles und ließ sie doch nichts anderes empfinden, als schwesterliche Liebe, sie vermittelte des Erbprinzen Wünsche und dämmte sie ein, wenn's nötig war, sie stand dem Hofe vor als Hausfrau, sie zog zu ihm heran, was bedeutend und gut war, sie stieg hinab in die Hütten der Armut und überzeugte sich selbst, wo Hilfe not that. Dafür liebte und verehrte man auch die Prinzessin Alexandra in allen Kreisen, und mancher Bewerber um die Hand der Fürstentochter, die so seltene Eigenschaften besaß, war schon erschienen, aber sie hatte keine derselben angenommen, denn sie meinte, damit hätte es Zeit, bis der Erbprinz vermählt und versorgt sei.
Heut' saß sie auf der schattigen Terrasse, das Skizzenbuch vor sich auf dem Tische, und zeichnete, denn sie verdiente wohl den Namen einer Künstlerin auf dem Felde der Malerei, der ihre ganze Neigung gehörte. Ihre imposante Gestalt umfloß weich eine lose, spitzenüberrieselte Morgenrobe von mattschimmernder, roher chinesischer Seide, ein kleines englisches Spitzenhäubchen verhüllte halb das dunkle Haar und kleidete den bedeutenden Kopf mit den regelmäßigen, ruhigen Zügen recht anmutig. Prinzeß Alexandra zählte jetzt siebenundzwanzig Jahre, sie stand mithin auf der Grenze reifer Jugend, in welcher andere Fürstentöchter längst vermählt sind oder sein sollten. Sie wußte das, aber sie wußte auch, daß ihr daheim ein Feld der Wirksamkeit beschieden war, das sie ausfüllte und nicht, ohne es zu schädigen, verlassen konnte – wenigstens so lange nicht, bis ihre anderen Geschwister versorgt waren, und nicht mehr ihrer oft benötigten Oberhoheit bedurften.
Ihr zunächst saß der Erbprinz, ein junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, von hoher schlanker Gestalt mit feinem, länglichem, blassem Antlitz und leichtem Bärtchen auf der Oberlippe. Er hielt ein Buch in der Hand und strich von Zeit zu Zeit mit goldenem Crayon ganze Sätze darin an.