Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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bezahlen lassen. Und eine andere würde Natalia Arkadiewna sein, wäre sie gesund und schön gewesen: Glied für Glied würde sie zum Besten der Sache geopfert haben. Das war ein Weib! Hätte Wladimir nicht die holde Tania geliebt, so würde er die sterbende Natalia geliebt haben.

      Aber er mußte das Geld auftreiben! Nicht nur, daß es seine Pflicht war, seinen Auftrag auszuführen, er brannte auch aus anderen Gründen auf die Erfüllung desselben. Von der Beschaffung der Summe, die, wie gesagt, ziemlich hoch war, hing im Süden Rußlands ein großer Putsch seiner Partei ab; er hatte das Geld auf alle Fälle herbeizubringen. Ein solches hochherrliches Vorhaben durfte nicht aus Mangel an diesem elenden Mammon scheitern. Wladimir zerbrach sich Tag und Nacht den Kopf, ohne etwas auszugrübeln. Und die Zeit drängte.

      In übelster Stimmung befand er sich eines Nachmittags bei Natalia, der gegenüber er sich, wie gewöhnlich, vollständig gehen ließ, die ihn aber diesmal auch nicht zu beruhigen vermochte. Wäre ihre Mutter reich gewesen, so würde Natalia von ihr, nötigenfalls durch die Drohung, sich selbst der Polizei angeben zu wollen, Geld erpreßt haben; doch der Geheime Staatsrat war, ein in Rußland seltener Fall, gestorben, ohne Schätze zurückgelassen zu haben.

      Während die beiden noch zusammen berieten und nichts fanden, vernahmen sie plötzlich, aus den unteren Räumen des Hauses herauftönend, leisen Gesang, unsäglich wehmütig, voll bestrickenden Wohllauts. Es war Tania, die ihren Knaben in Schlummer sang. Die beiden wurden still und lauschten auf die liebliche Stimme; aber als Natalia zufällig einen Blick auf Wladimir warf, erschrak sie.

      »Was haben Sie? Sprechen Sie, Wladimir Wassilitsch! Ist Ihnen unwohl geworden! Wie sehen Sie aus!«

      Wladimir stand vor ihr, bleichen Gesichts, nach Fassung ringend.

      »Hören Sie doch!« stieß er hervor.

      »Tania singt.«

      »Ja, Tania.«

      »Wie kann Sie das erschrecken?«

      »Sie hat eine solch süße Stimme!«

      »Ihre Tania ist eine russische Nachtigall.«

      Wladimir erwiderte nichts. Wiederum schwiegen sie und lauschten. Tania sang:

      »Eine rote Rose ging auf im tiefen Schnee.

       Warum tut mir mein Herze so bitterlich weh?

       Gott hilf, Gott hilf! Die Blume, die dort so blutig glüht,

       Sie ist aus meinen Tränen – ach, Tränen aufgeblüht.«

      Erst als Tania zu singen aufgehört hatte, entriß sich Wladimir der Entgeisterung, die über ihn gekommen war. Ohne ein Wort zu sagen, ging er, seine Freundin in Sorge und Zweifel zurücklassend.

      Wladimir stieg langsam die Treppe hinab. Unten angekommen blieb er stehen, unentschlossen, ob er bei Tania eintreten oder gleich weitergehen sollte. Da hörte er sie mit dem Kinde, welches noch nicht eingeschlafen war, leise plaudern und kosen und – schlich an der Tür vorüber. Wenn er sie sah, mit dem Knaben, würde es ihn in seinem Entschlüsse wankend machen, es würde seine Willenskraft lähmen, würde ihn völlig entmannen. Und er wollte seinen Vorsatz durchführen, um der Sache willen.

      Tania sollte endlich der Sache nützen, seine Geliebte, die Mutter seines Sohnes, sollte bei den großen Dingen, die vor sich gingen, nicht gänzlich untätig bleiben, die einzige, welche ihre Hände in den Schoß legte und nichts, gar nichts tat, als daß sie ihn und seinen Knaben abgöttisch liebte.

      Es lag etwas Unwürdiges in solcher Existenz, etwas geradezu Erniedrigendes. Das Weib nur Weib, des Mannes Geliebte, die Amme seines Kindes. Aber es war seine eigene Schuld! Warum hatte er sie so lange müßig bleiben lassen, warum hatte er ihr nicht früher ihren Teil an seiner großen Arbeit gegeben, wie es ihr zukam, wie sie es von ihm für sich verlangen durfte, warum hatte er sie nicht erzogen, ein Kind der Sache zu sein, eine Zeitgemäße und Auferstandene?!

      Ihre Seele befand sich noch immer in totenähnlichem Schlummer, er hatte ihre Seele noch immer nicht geweckt; immer blieb es bei schwachen Versuchen, immer zeigte er sich feig.

      Es war höchste Zeit, sich aufzuraffen und die Schwäche von sich zu werfen; gleich diesen Abend wollte er den Anfang machen; gleich morgen sollte Tania beginnen, der Sache zu dienen. Dann würde er freier aufatmen können.

      Wladimir begab sich in die Stadt, geradeswegs zu einem gewissen Dimitri Sassinow.

      Dieser Herr Sassinow war eine der bekanntesten Persönlichkeiten Moskaus, Besitzer eines großen Vergnügungslokals, einer sogenannten »Spezialitätenbühne«. Herren und Damen aller Nationalitäten produzierten in dem Saale des Herrn Sassinow jeden Abend sowohl ihre Kunststücke, wie ihre Person. Es gab auf der ganzen Welt keine Abnormität, keine Geschicklichkeit, keine »Kunst«, welche Herr Sassinow dem verehrungswürdigen Publikum nicht präsentiert hatte; jede Ausgeburt des menschlichen Geistes, welche sich in der menschlichen Figur verkörpern ließ, führte in dem Etablissement des Herrn Sassinow Abend für Abend unter dem Beifallsjubel einer zahlreich versammelten Zuschauerschaft ihre Sprünge auf. Diese Zuhörer bestanden aus einer etwas gemischten Gesellschaft: Handwerker mit ihren Weibern oder Geliebten, Dirnen mit ihren Zuhältern oder zeitweiligen Besitzern, der Moskauer jeunesse dorée. Denn Herr Sassinow selbst war eine Spezialität in der Auswahl der Genüsse, die er einem verehrungswürdigen Publikum Abend für Abend vorsetzte. Besonders was den zarten Teil des reichhaltigen Menüs anbetraf, ließ Herr Sassinow es sich angelegen sein, den Besuchern seines Etablissements stets das Allerfrischeste und Allerpikanteste Zu offerieren (darunter häufig »Kaviar fürs Volk«). So bildete Herrn Sassinows ausgezeichnetes Warenmagazin eine Bezugsquelle für die leiblichen Bedürfnisse der halben eleganten Moskauer Welt. Diesen Wohltäter der Menschheit suchte Wladimir auf und lernte an Herrn Dimitri Sassinow einen ältlichen, feisten Altrussen kennen, der nach Fett und Branntwein stank, in einem von Schmutz starrenden Kaftan steckte, einen langen, gelben Bart und lange schwarze Fingernägel hatte. Diese angenehme und würdevolle Persönlichkeit empfing Wladimir in seinem »Bureau«, einem dunkeln höhlenartigen Raum, der auf einen brunnenähnlichen Hof hinausging und von den Gerüchen seines Bewohners infiziert war.

      »He, wer sind Sie und was wollen Sie?« schrie der Würdige mit grober, schnarrender Stimme Wladimir an. Dann betrachtete er sich denselben näher und änderte seinen Ton. »Welche Spezialität haben Sie? Was fordern Sie für den Abend? Ich will Sie engagieren. Verstehen Sie sich auf das Trapez? Ein Mensch von Ihrer Figur sollte sich auf das Trapez verstehen. Ich hoffe, daß Sie kein Taschenspieler sind; als Taschenspieler könnte ich Sie nicht brauchen; nur in Trikot!«

      Wladimir wurde zornig.

      »Seien Sie doch nicht unverschämt, hören Sie! Für wen halten Sie mich? Ich bin kein Possenreißer.«

      »Was sind Sie denn? Wenn Sie nicht das Trapez können und nicht in Trikot gehen wollen, so scheren Sie sich hinaus. Verstehen Sie!«

      Wladimir mäßigte sich um der Sache willen.

      »Ich wollte Sie fragen, ob Sie Lust hätten, eine Sängerin zu engagieren?«

      »He?«

      »Eine Bäuerin aus einem Steppendorf, die eine reizende Stimme hat.«

      »Was tu' ich mit der reizenden Stimme? Ist die Person jung?«

      »Achtzehn Jahre.«

      »Hübsch?«

      »Eine Schönheit.«

      »Blond wahrscheinlich?«

      »Allerdings.«

      »Gut gewachsen?«

      »Was geht das Sie an?«

      »Was mich das angeht? Sind Sie verrückt? Wenn die junge Person nicht gut gewachsen ist, so kann ich sie nicht brauchen!«

      »Nun, sie ist gut gewachsen.«

      »Ist es Ihre Schwester?«

      »Nein.«

      »Ihre Geliebte?«

      »Ja.«

      Es