Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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hinein.

      Ihn retten oder mit ihm sterben!

      Nicht fähig, etwas anderes zu denken, spähte sie nach ihm aus und, während die Rotte im Erdgeschoß sogleich zu plündern und zu zerstören begann, eilte sie die Treppe hinauf in das Schlafzimmer des Mütterchens. Dort war er! Er hatte sich vor seinem Mütterchen niedergeworfen und hielt die zitternde Gestalt mit beiden Armen umschlungen, fest an sein Herz gedrückt. Als Wera ihn anrief, zuckte er heftig zusammen, dann löste er sich langsam, zaudernd von dem heiligen Leib, der ihm das Leben gegeben.

      »Fliehen Sie! Retten Sie Ihr Leben! Um Ihres Mütterchens willen, um – meinetwillen!«

      Grischa richtete sich auf, sah Wera an und übergab ihr mit einer leichten Bewegung seines Hauptes das Leben seiner Mutter, dieses zu schützen und zu retten. Im nächsten Augenblick war das Zimmer von den wilden Gestalten der Bauern erfüllt und Grischa umringt. Halb von Sinnen vor Jammer machte Wera einen letzten Versuch, ihn zu retten; er sollte wenigstens sein Leben verteidigen. Sie entriß einem Bauern das Gewehr, brach sich Bahn, flog auf Grischa zu und hielt ihm die Waffe hin. Aber dieser wies sie zurück; mit demselben Blick, mit derselben Gebärde, mit der er sich auf der Landstraße von ihr abgewandt hatte. In diesem Augenblicke traf ihn ein Schuß und Mischka drängte sich vor; Grischa taumelte gegen die Wand und brach, seinen Blick auf Wera gerichtet, zusammen.

      *

      Es war Herbst geworden. Wenn der Lindenwald von der Sonne beschienen ward, glich er einem hohen Hügel aufgeschütteten Goldes. Aber sobald ein Luftzug sich regte, rieselte es flimmernd und schimmernd langsam, langsam auf den Boden herab, den bereits ein dichter, gelber Teppich bedeckte. Und die goldigen Blätter fielen auf ein Grab, darin ein Mann ruhte, dessen Herz gebrochen war, ehe es eine Kugel getroffen.

      Und die goldigen Lindenblätter flatterten durch die sonnigen Lüfte, wie Schwärme lichter Schmetterlinge; sie gaukelten um das grüne Häuschen; sie flogen gegen die Fensterscheiben, als wollten sie zugleich mit den Sonnenstrahlen in das hübsche bunte Zimmer dringen, das öde und leer stand, denn das Mütterchen war fort, nicht tot und begraben wie ihr Sohn, sondern fort mit dem Mädchen, welches ihr Sohn geliebt hatte, und welches das Mütterchen nicht mehr verlassen wollte, trotzdem sie es war, die ihren Sohn, ihren Grischa, ihren Augapfel, ihr Herzblatt zum ewigen Schlummer unter die welken Lindenblätter gebettet.

      In der Natur war es, als feierte die Welt Fest auf Fest. Der Himmel blaute herunter in einer Pracht, wie wenn das Leben der Erde begänne und es Frühling werden sollte. Die Luft war so klar, daß die fernen dunklen Wälder deutlich dastanden, als wären sie um Meilenweite näher gerückt. Schwärme von Vögeln zogen hin und her, sich sammelnd für die weite, weite Fahrt über Länder und Meere; die Schwalben, die Kraniche, die Reiher und die wilden Schwäne. Weiße feine Gespinste schwebten durch die Luft, hefteten sich an Sträucher und Zäune, breiteten sich über die Stoppelfelder, und die Dorfkinder sagten: Da zieht der Sommer hinweg.

      Alles war wie sonst; nur das Leben der Menschen war geändert und gewandelt. Zuerst, als unter den Linden das Grab aufgeworfen worden, in welches der Mann hineingelegt ward, der so treu und stark geliebt hatte – da war alles Triumph und Jubel gewesen. Das Mütterchen ließen sie am Leben, denn das fremde, schöne Mädchen schützte es. Aber des Mütterchens Linnen, das dieses selbst gesponnen, gebleicht und gewebt, wurde aus den Schranken und Truhen herausgerissen, und die Bauernweiber schlugen sich darum; des Mütterchens eingemachte Früchte, ihre berühmten Salzgurken und getrockneten Schwämme, ihren herrlichen Ingwer und ihre wundervollen Melonen, Anuschkas Schinken und in Schmalz eingelegte Schnepfen, alles erlitt dasselbe Schicksal! Die hübsche bunte Stube wurde bis auf den letzten Gegen-* stand geleert, das eine Stück in diese, das andere in jene Hütte geschleppt, so daß von dem Häuschen nichts übrigblieb als die Mauern.

      Eine Zeitlang dauerte die allgemeine Freude, denn wie die Weiber unter sich das Haus, so teilten die Männer das Land; und wie die Weiber sich bei des Mütterchens Linnen und Salzgurken gegenseitig in die Haare fuhren, so schlugen sich die Männer bei den Kühen und Pferden, bei den Äckern und Wiesen, daß die Fäuste blutige Spuren zurückließen. Dabei wurde soviel Branntwein getrunken, als es Branntwein zu trinken gab. Kaum hatten sie sich im Rausch versöhnt, als sie sich im Rausch von neuem verfeindeten. So lebten sie in Hader und Zwist, bis eines schönen Tages die Gendarmerie ins Dorf rückte, die meisten Bauern zu Gefangenen machte und nach Moskau hinwegtrieb. Als sich die Bauern auf den Ukas ihres Väterchens, des Zaren, beriefen, durch welchen ihnen alles Land und das Leben aller Edelleute zu eigen gegeben war, erfuhren sie, daß sie belogen und betrogen worden.

      Doch sie hatten sich betrügen lassen und mußten dafür büßen; sie und andere. Die Kerker in den großen Städten füllten sich, es mehrten sich die Gefangenentransporte nach Sibirien; wo aber der Herr tot war, da kam der Beamte und nahm das herrenlose Gut in Beschlag. So geschah es in Dawidkowo und so geschah es in manchen anderen Dörfern.

      Bei der Untersuchung über jenen Aufstand war viel von einer Nihilistin Wera Iwanowna aus Eskowo die Rede; aber die Bauern wußten nichts anderes von ihr, als daß sie gekommen und wieder gegangen war, gegangen mit ihres toten Herrn altem Mütterchen, dessen Leben sie beschützt und gerettet, gegangen mit der Amme Anuschka, die von dem Mütterchen nicht hatte lassen wollen. Man wußte, daß die drei sich auf den Weg nach Moskau begeben hatten. Das junge Mädchen stützte die wankende Greisin und leitete sie; so waren sie den Augen der Dorfbewohner entschwunden und von ihnen nicht wieder gesehen worden.

      Und der Herbst überzog mit seinem Gold und Purpur ganz Rußland, ganz Rußland prangte in den Kaiserfarben! Um das Landhaus der Prinzessin stiegen die hohen bunten Laubpyramiden auf, die Blätter fielen auf die Kieswege, wo sie liegen blieben, denn die Herrin war fortgezogen. Das große, prächtige Haus stand mit verschlossenen Türen und Läden und sah so öde und tot aus, als hätte es niemals in seinen Mauern ein glänzendes, festliches Leben gesehen, ein Leben, darin an dem einen Tage vergessen wurde, was an dem andern geschehen. Das Haus war still und stumm; aber in Weras Kammer stand auf dem Tisch das Marienbild und sah so blaß und traurig drein, als wisse es von dem Jammer der Menschheit.

      Und der Herbstwind wehte goldige Blätter in den Hof des kleinen Gärtnerhauses in der Nowaja-Andronowka-Vorstadt. An dem Fenster stand ein junges, blasses, wunderholdes Weib und sah den Blättern zu, wie sie herangeweht wurden und zu Boden fielen, wie sie wieder aufflatterten, höher und höher, in den Glanz der Lüfte hinein. Und Tanias Blicke sagten: Ach, daß ich euch nachsterben, daß ich auch so vom Stamme fortgerissen, auch so verweht werden könnte.

      Zwanzigstes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Wera hatte bei Marja Carlowna Aufnahme gefunden. In einem der Zimmer der öden Wohnung, wo Sascha jetzt wieder Dynamit fabrizierte, hauste sie mit dem Mütterchen und Anuschka. Die Polizei stellte ihr nach, sie mußte sich Tag und Nacht verborgen halten, was sie auch von allen Dingen am liebsten tat; denn in ihrer Seele war es so dunkel, daß das Sonnenlicht ihr Schmerzen bereitete, und in ihrem Herzen fühlte sie sich so einsam, daß sie den Anblick von Menschen nicht zu ertragen vermochte. Mit den beiden Frauen war sie indessen den ganzen Tag zusammen, und einige Zimmer von dem ihrigen entfernt arbeitete Sascha; statt für das Volk zu agitieren, lebte Wera ausschließlich für sie, und wenn etwas sie mit ihrem Dasein aussöhnen konnte, so war es die völlige Hingabe an diese drei Menschen. Marja Carlowna hatte ihr Leinwand zu nähen gegeben, so daß Wera so glücklich sein konnte, durch ihrer Hände Arbeit die ganze kleine Familie zu erhalten.

      Wie waren alle verwandelt; aus dem guten, milden Mütterchen war ein schwankender Schatten geworden, der mit Gott und allen Heiligen haderte. Aber eines Tages kam ihr in den Sinn, daß sie der Mutter Gottes eine Wallfahrt gelobt, und mit Gewalt wollte sie auf und davon, um zu Fuß die lange Pilgerschaft anzutreten, der Mutter Gottes geweihte Kerzen zu opfern und an dem Altar der Himmelskönigin dieser für das Glück ihres Grischa zu danken. In solchen Stunden durfte Wera nicht von ihrer Seite weichen, dann konnte nur Wera sie beruhigen. Denn Wera war es, die ihr Sohn geliebt hatte, die ihren Sohn glücklich gemacht haben würde.

      Und welches Wunder war mit der ewig murrenden,