Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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konnte das ganze Zimmer übersehen. Da war der Teetisch mit dem Samowar, da war das Mütterchen und Grischa, Anuschka mußte in der Küche sein. Wie hell und friedlich es drinnen aussah! Aber die Bewohner schienen davon nichts zu fühlen. Sie saßen sich gegenüber und blickten sich an und sagten nichts, denn ihr Leid war zu groß für Worte. Wie alt das Mütterchen erschien! Es waren erst zehn Stunden, daß Wera sie nicht gesehen; aber das Mütterchen war seitdem um zehn Jahre gealtert. Wie lange würde es dauern und jener Mann war allein auf der Welt. Langsam, langsam schlichen für ihn die Tage dahin, einer wie der andere, und immer bohrte der gleiche Schmerz in ihm: du mußt »sie« verachten! Und jetzt glitt das Mütterchen von ihrem Sitz herunter ihrem Sohn zu Füßen, schmiegte sich an seine Knie und streckte ihre zitternden Hände zu ihm auf. Was mochte sie ihm sagen? – – »Dein altes Mütterchen ist bei dir; dein altes Mütterchen liebt dich; bringe dein altes Mütterchen doch nicht in die Grube.« Aber Grischa saß stumm und starr und konnte der alten Frau zu seinen Füßen nicht antworten: »Ich will leben, für dich!«

      Wera wich vom Fenster zurück, bis in den Wald hinein. Da stand sie und vermochte sich nicht loszureißen von dem Anblick des Häuschens und des Lichtes. Mitternacht war längst vorüber, als dieses endlich erlosch.

      Beim Morgengrauen begab sich Wera in das Haus des Ältesten, weckte den Knecht und schickte ihn zum Bauern, um ihm zu sagen, wer da sei. Es dauerte auch nicht lange, so kam der Gerufene; er war nüchtern, wie es schien. Wera gab sich zu erkennen und wurde von dem Manne sofort ins Haus geführt. Der Bauer schickte sein Weib hinaus, verschloß die Tür, und die beiden besprachen sich miteinander. In der nächsten Nacht wollte der Älteste sämtliche Bauern zusammenberufen auf das Feld, an einen bestimmten Platz. Dort sollte der Ukas vorgelesen und die Leute aufgefordert werden, die Gebote des Zaren zu erfüllen. Nachdem das beschlossen war, nahm Wera Trank und Speise zu sich und hielt sich während des ganzen Tages in der Hütte verborgen. Gegen Abend bat sie ihren Wirt, er möchte zu Grigor Michailitsch gehen und diesen im Namen der Gemeinde nochmals auffordern, seinen Landbesitz Zu verteilen. Der Mann willigte ein und ging, kam aber sehr bald zurück, mit dem Bescheide, daß Grigor Michailitsch von keiner Teilung wissen wollte; sie mußten also den Willen des Zaren gewaltsam durchsetzen.

      In der Nacht versammelten sie sich auf einem Hügel mitten in der Steppe. Timoteus Petrowitsch zündete eine Wachskerze an, steckte sie in die Erde, legte daneben das Evangelienbuch und darauf das Kreuz, kniete vor diesen heiligen Gegenständen nieder und las den Bauern den geheimen kaiserlichen Ukas vor. Darin hieß es, daß der Zar seinen Bauern längst den ganzen Grund und Boden zum freien Genuß überlassen und sie von allen Steuern befreit hatte, daß aber die Gutsbesitzer, die Geistlichkeit und die Beamten diesen Ukas vor den Bauern versteckt hielten. Deshalb erlasse der Zar dieses geheime Manifest, auf Grund dessen sich die Bauern im geheimen zu einem Bunde vereinigen, sich Waffen anschaffen und sich gegen die Gutsbesitzer erheben sollten.

      Der Inhalt dieser gefälschten Urkunde machte auf die Bauern einen unbeschreiblichen Eindruck. Alle drängten sich zu dem Evangelium hin, legten ihre Hände darauf und gelobten, den Willen des Kaisers zu erfüllen. Nun berichtete Timoteus Petrowitsch, daß von den »Kommissären des Kaisers« allen Bauern in der Umgegend von Moskau heimlich Waffen gebracht worden wären und daß sich auch in Dawidkowo ein Vorrat von Gewehren und Munition befände, den er in dem Birkenwäldchen hätte eingraben lassen. Sogleich brachen die Leute dahin auf. Der Älteste schritt mit dem Evangelienbuche und dem Kreuze voraus, Wera trug neben ihm die Kerze. So bewegte sich, wie eine Prozession, der Zug durch die Nacht über Feld und Steppe dem Walde zu. Timoteus Petrowitsch wies den Bauern den Ort, wo die Waffen verscharrt lagen; man grub sie hervor, verteilte sie und zog darauf, wie man gekommen war, zum Dorf zurück in die Kirche, wo die heiligen Gegenstände feierlich auf den Altar niedergelegt wurden und der Älteste eine Rede hielt. Dann brach die Empörung aus.

      Weras Auftrag war erfüllt; sie war gehorsam gewesen. Jetzt galt es zu verhüten, daß sie auch zur Mörderin würde. Es galt, das bedrohte Leben des Gutsherrn zu retten, oder mit ihm zu sterben.

      Sie eilte den Rebellen voraus. Ihre Todesangst um Grischa gab ihr ihre ganze Kraft und Entschlossenheit zurück; sie wußte genau, was sie zu tun hatte, daß sie Grischa sagen mußte: Rette dich, fliehe und nimm mich hin! Dem alten, seelenguten Mütterchen würde niemand ein Leids zufügen.

      Es war eine dunkle Nacht, kein Stern glänzte am Himmel. Wera stürzte in den schwarzen Wald hinein, rannte gegen die Stämme an, stolperte über die Wurzeln, verlor die Richtung. Das hielt sie auf, Schon vernahm sie hinter sich die Stimmen der Empörer, denen sich auch die Weiber angeschlossen zu haben schienen. Während Wera verzweiflungsvoll vorwärtsdrang, fiel ihr ein, daß sie bei der Verlesung des Ukas unter den Männern auch Mischka gesehen hatte, dessen hübsches Gesicht von fanatischer Leidenschaft entstellt war. Ihr begann zu grausen. Dieser Mischka war der Spielgefährte Grischas gewesen, der Liebling des Mütterchens; auch Grischa liebte ihn und nun war auch dieser dabei, seinen Herrn zu verraten! Wenn Grischa ihn erblickte, es würde sein gütiges Herz wie ein Dolchstoß treffen. Wehe dem russischen Volke, wenn es viele solcher Knechte besaß, die gegen solche Herren die Hände erhoben.

      Gott sei Dank; sie hatte einen Vorsprung gewonnen! Sie lief aus dem Wald, sie stürzte zum Hause, das schwarz und tot dalag, sie warf sich gegen die Tür, sie pochte und schrie: »öffnet, öffnet! Um des Himmels willen, öffnet!«

      Aber es blieb im Hause dunkel und still. Von neuem vernahm sie die wilden Stimmen der Aufrührer.

      »Grigor Michailitsch! Grigor Michailitsch! Ihre Bauern kommen, Sie zu ermorden.«

      Kein Ton antwortete ihrem wilden Geschrei.

      »Gregor Michailitsch, ich habe die Bauern angestiftet, gegen Sie zu ziehen und Sie zu töten; ich, Wera, die Sie lieben, die sich Ihnen jetzt zu Füßen werfen will. So hören Sie doch! Aus Erbarmen! Grigor Michailitsch – Grischa! Grischa!«

      Sie vernahm drinnen ein Geräusch; man hatte sie gehört. Wera warf sich vor der Tür nieder. Wenn er öffnete, sollte er sie vor sich sehen, Zu seinen Füßen. Auf ihren Knien wollte sie ihn um sein Leben bitten.

      Aber er öffnete nicht. Und sie kamen!

      Grischa hatte seinen Namen rufen hören, hatte Weras Stimme erkannt, hatte verstanden, was sie so fürchterlich schrie. Er befand sich in seinem Zimmer und saß vollständig angekleidet auf seinem Bett. Er war klar bei Gedanken, durchaus ruhig, überlegte und faßte einen Entschluß. Also das Weib, welches für ihn gleich einem leuchtenden Sternbilde gewesen, hatte sich von einem Begehrlichen küssen lassen, war schlecht geworden und gefallen! Also seine Bauern, denen er Wohltaten über Wohltaten erwiesen, kamen, ihn zu töten – –

      Ekel ergriff ihn, ein unaussprechlicher Überdruß am Leben, eine unsägliche Verachtung alles dessen, was Mensch war.

      Aber sein Mütterchen!

      Er konnte seinem Mütterchen nicht helfen; das mußte ein Stärkerer tun als er. Er war ein schwacher, hilfloser Wicht, ein vom Sturm gebrochener Halm, Fort mit ihm!

      Immer noch rief sie draußen seinen Namen; voller Verzweiflung, voller Flehen, daß er am Leben bleibe.

      Aber er öffnete nicht!

      Und jetzt kamen sie, jetzt waren sie da.

      Grischa erhob sich. Er wollte zu seinem Mütterchen gehen; sein Mütterchen sollte ihn segnen. Dann war er fertig mit dieser Welt.

      Johlend und heulend kamen die aufrührerischen Bauern vor das Haus gezogen, Timoteus Petrowitsch und Mischka führten sie an, sämtliche Weiber waren dabei, selbst Kinder. Wera warf sich den Wütenden entgegen und beschwor sie, ihres Herrn Leben zu schonen und ihm nur sein Land zu nehmen. Aber die Bauern schrien auf sie ein, was ihr in den Sinn gekommen sei. Sie habe den Ukas des Zaren nach Dawidkowo gebracht.

      Unterdessen war man im Hause endlich erwacht. Die draußen vernahmen das Jammergeschrei des Mütterchens und das Geheul der Mägde. Jetzt erschien Anuschka an einem Fenster, riß es auf, begann zu schelten und zu zetern; sie sollten sich nach Hause scheren! Ein Bauer legte an, schoß ab, traf aber nicht. Wera hörte die Stimme Grischas; ein zweiter Schuß fiel.

      Nun stürmten die Bauern